Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

30 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 86. 
  
Die ganze folgende Entwicklung des Völkerrechts und der Völkerrechtswissen- 
schaft fußt auf dem Werke des Grotius, dessen Eigenart und sachliche Be- 
deutung auf die Zeitgenossen und folgende Geschlechter den mächtigsten 
Eindruck gemacht hatte. Die Greul der damaligen Kriegführung und der 
Mangel eines allgemein anerkannten Kriegsrechts regten in ihm den Ent- 
schluß zur Bearbeitung dieses Teils des Völkerrechts an. Die Vertiefung in 
das Thema führte ihn aber zu einer allseitigen Prüfung der allgemeinen 
Grundlagen des Rechts überhaupt. Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung 
war der damals herrschende Gedanke, daß das in der menschlichen Vernunft 
wurzelnde und unabhängig von dem positiven Recht erkennbare Recht diesem 
letzteren gegenüber wegen seiner logischen Richtigkeit und Unwandelbarkeit 
eine übergeordnete Stellung einnimmt. Das in den Prolegomena zu dem Jus 
belli ac pacis niedergelegte System des Naturrechts bildet die Grundlage des 
Systems des Völkerrechts, zugleich aber auch die Grundlage der Naturrechts- 
wissenschaft, so daß Grotius auch als der Begründer dieses Teils der Rechts- 
wissenschaft (als der Vater des Naturrechts) bezeichnet zu werden pflegt. 
Auf dem Boden seiner dualistischen Anschauung verkennt Grotius keineswegs 
die Existenz eines zu seiner Zeit vorwiegend auf Gewohnheit beruhenden 
positiven Völkerrechts (jus gentium voluntarium); allein die Überschätzung 
des Werts des Naturrechts infolge der Verkennung des Wesens des Rechts 
und seines einheitlichen begrifflichen und praktischen Charakters veranlaßte 
ihn, dem positiven Recht in der wissenschaftlichen Behandlung des Völker- 
rechts höchstens die Bedeutung eines die innere Richtigkeit des natürlichen 
Völkerrechts bekräftigenden Arguments einzuräumen. Dieser Anschauung über 
das Wertverhältnis von positivem und natürlichem Recht steht übrigens schon 
in dem Zeitalter des Grotius die Anschauung eines englischen Schriftstellers, 
Richard Zouche (Zouchaeus) — 1590—1660 — gegenüber. Auch Zouche steht 
auf dem Boden der dualistischen Anschauung, allein er räumt dem durch Ge- 
wohnheit entstandenen positiven Völkerrecht den Vorzug gegenüber dem 
natürlichen Völkerrecht ein; auf diesem Standpunkte steht das im Jahre 1650 
erschienene Werk „Juris et judicii fecialis, sive juris inter gentes, et quaestio- 
num de eodem explicatio, qua, quae ad pacem et bellum inter diversos prin- 
cipes aut populos spectant, ex praecipuis historico jure peritis exhibentur. 
Diese Betonung des positiven Rechts ließ das Werk in einer für die damalige Zeit 
bemerkenswerten Weise als eine Darstellung des positiven Völkerrechts erscheinen. 
III. Der einseitig naturrechtliche Standpunkt wurde im 17. Jahrhundert 
vornehmlich von Samuel Pufendorf (1632—1694) !) vertreten; nach ihm gibt 
es kein positives Völkerrecht, dem praktische Geltung zukommen könnte. 
Ihm folgt Christian Thomasius (1655—1738)2). Andere Vertreter dieser 
Richtung sind Jean Barbeyrac (1674—1744), der Kommentator des Grotius 
und der Werke des Pufendorf; Jean Jacques Burlamaqui (1694—1748)) 
  
1) Elementa jurisprudentiae universalis, 1666; De jure naturae 'et gentium, 1672; De 
officio hominis et civis juxta legem naturalem, 1673. 
2) Jnstitutioncs jurisprudentiae divinae, 1688; Fundamenta juris naturae et gentium, 1705. 
3) Principes du droit de la nature et des gens.
	        
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