396 Siebentes Buch. Gemeinsame Wirksamkeit der Staaten etc. $ 129.
sowohl ohne allgemeinen als Gesetz verbindlichen Vertrag wie auch über den
Rahmen der Verträge hinaus unzulässig sind. Auslieferungsgesetze können aller-
dings die Regierung auch zu individuellen Auslieferungen ermächtigen. Außer den
beiden genannten Staaten gewähren auch Belgien und die Niederlande
die Auslieferung nur auf Grund eines zu diesem Rechtshilfeakt verpflichtenden
Vertragsverhältnisses. Die durch Verträge zur Auslieferung nicht verpflich-
teten Staaten pflegen die Gewährung der Auslieferung von der Zusicherung
der Reziprozität abhängig zu machen.
Il. Hat ein Staat vor der Abschließung eines Auslieferungsvertrages
nicht prinzipiell jede Auslieferung abgelehnt, so kann der Rückwirkung eines
Vertrages auf Personen, die vor dem Abschluß in das Gebiet des Staates sich
begeben haben, kein maßgebender Einwand entgegengesetzt werden. Beginnt
dagegen erst ein Staat auszuliefern, so wird er in seinen ersten Verträgen
deren Anwendbarkeit auf Personen, welche sich vorher in sein Gebiet be-
geben hatten, ausdrücklich ausschließen müssen.
$ 129. Fortsetzung. Grenzen der Auslieferungspflicht. I. Die Idee
der Auslieferung hängt nach dem bisher Gesagten auf das engste zusammen
mit der Gemeinschaft von Staaten gleicher oder wenigstens homogener Rechts-
kultur. Um deswillen wird die Übernahme der Pflicht zur Auslieferung
gegenüber solchen Staaten ausgeschlossen sein, deren Rechtszuständen nicht
das nötige Vertrauen entgegengebracht werden kann. Unter benachbarten
Staaten wird die Auslieferungspflicht aus naheliegenden Gründen in weitestem
Umfang Anerkennung finden können !). Eine Beschränkung auf Verbrechen
im Sinne der bekannten Legaleinteilung ist nicht zutreffend, da nach den
Strafgesetzgebungen mancher Staaten gerade die in der Praxis am häufigsten
vorkommenden strafbaren Handlungen in ihren normalen Begehungsfällen
bloße „Vergehen“ darstellen und nur die qualifizierten Fälle als „Verbrechen“
behandelt werden. Unter Staaten, die nicht aneinander grenzen, beschränkt
man jedoch den Auslieferungsverkehr auf Delikte der schwersten Art und die
schwersten Fälle bestimmter umfassender Deliktsarten, oder es soll ein in
hypothesi zu erkennendes Strafminimum oder Strafmaximum entscheiden.
Einen weniger geeigneten Maßstab bietet die in tlesi im Gesetze angedrohte
Strafe.
II. Mit der materiellen Grundlage der Auslieferungsidee hängt es zu-
sammen, daß in der streitigen Frage, nach welchem Recht der Auslieferungs-
charakter der dem auszuliefernden Individuum zur Last gelegten Tat zu be-
urteilen sei, überwiegende Gründe für die Forderung sprechen, daß die Tat
nach den Gesetzen beider Staaten strafbar sei?\. Die Verträge stimmen
immer mehr mit dieser Forderung überein; die Frage, ob die Anklage oder
Verurteilung sich auf eines der im Vertrage bezeichneten Delikte beziehe, hat
3) So der französisch-englische Vertrag 1876, der österreichisch-ungarisch-serbische Ver-
trag 1851 u. 8. w.
1) Anderer Meinung Bernard, |. ce. I1 203 sq. S. dagegen und gegen die Beschlüsse des
XVI. Deutschen Juristentags (Verhandl. I 1 ff., IL 314 ffıy v. Bar, Gerichtssaal XXAIV 4>1 ff.
und Liehrb. 297. — Siche auch Lammasch, HH II! 4s1 ff.