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und der Würde des Menschen ihren Abschluß und ihre Befriedigung in kollek-
tiven Aktionen der Mächte und den damit zusammenhängenden einzelstaat-
lichen Maßregeln (gesetzlicher und polizeilicher Natur) gefunden. Die in
unseren Tagen hervorgetretene Bewegung gegen den Frauenhandel weist mit
jener eine Analogie auch gerade darin auf, daß sie gleichfalls zunächst
auf ethischen und philanthropischen Motiven beruht. Das öffentliche
Gewissen wurde durch die Kunde von dem beklagenswerten Schicksal unbe-
scholtener Mädchen und Frauen, die durch das listige und täuschende Vor-
gehen gewissenloser und gewinnsüchtiger Individuen der Prostitution zugeführt
wurden, mächtig aufgeregt. Der Eindruck dieser Nachrichten hatte jene
philanthropische Bewegung veranlaßt !), welche zu der Erkenntnis führte, dab
die zivilisierte Gesellschaft einem schweren sozialen Übel und einer organisierten
Gruppe des internationalen Verbrechertums gegenübersteht, welches wirk-
sam eben nur durch kollektives Eingreifen der zivilisierten Mächte be-
kämpft werden kann. Eine noch so rationelle und energische Reaktion der
Einzelstaatsgewalt vermag die Quelle des Übels nicht zu treffen. Daß die
Aufgabe der Bekämpfung des Übels durch kollektives Vorgehen der Kultur-
staaten in vollem Maße gegeben ist, ist heute allgemein anerkannt, denn das
hier zu bekämpfende Delikt ist ein Angriff auf ein solidarisches Interesse aller
Kulturvölker; ferner liegt hier ein Delikt vor, dessen Ausführung sich regel-
mäßig auf die Jurisdiktionsgebiete verschiedener Staaten verteilt und auch
um deswillen einen eminent internationalen Charakter aufweist. Die auf dem
Londoner Kongreß zur Bekämpfung des Frauenhandels (20. Juni 1899) ge-
gebene Anregung einer kollektiven Aktion der Mächte fiel auf fruchtbaren
Boden. Auf Initiative der französischen Regierung wurde eine Konferenz
in Paris einberufen (15. bis 25. Juli 1902)2). Das Ergebnis sind zwei Kon-
ventionsentwürfe. Die erste Konvention beschäftigt sich mit der Schaffung
von Grundlagen für eine gleichmäßige strafrechtliche Repression
des Frauenhandels durch entsprechende Ergänzungen der nationalen Straf-
gesetzgebungen der kontrahierenden Staaten. Die zweite Konvention beschäf-
tigt sich mit den administrativen Mitteln der Bekämpfung des Übels,
insbesondere in der Richtung präventiver Tätigkeit der nationalen Behörden
und der internationalen Organe (vgl. in dieser Richtung insbesondere Art. 3
der Konvention). Formelle Wirksamkeit erlangte zunächst das zweite Ab-
kommen unterm 18. Mai 19043). Einzelverträge zum Schutz verkuppelter
Personen, so die vom Deutschen Reich mit den Niederlanden (15. November
1) Für die erste Zeit kommt hier in Betracht die Union internationale des amics de la
jeune fılle (Neufchätel 1877) und L’oeuvre catholique internationale de la protection de la
jeune fille (Freiburg in der Schweiz 1896). Die intensivste Wirksamkeit entwickelt die
National-Vigilance-Association durch ihren Sekretär Coote. Diese Association hat die Ziele
der Bewegung sofort richtig erkannt und eine internationale Abwehr gefordert, die neben
dem Eingreifen der Einzelstaaten und der philanthorpischen Tätigkeit funktionieren muß. —
In kriminalistischer Beziehung entwickelte die internationale kriminalistische Ver-
einigung eine anregende Tätigkeit, innerhalb welcher das ınternationale Moment wiederholt
zur Anerkennung gelangte. 2) Ueber die Konferenz vgl. Renault RG IX, 497.
3) Abgedruckt bei Fleischmann, 351 und Deutsches RGBl. 1905 S. 695.