38 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 87.
für seinen Staat zu gewinnen vermag, mögen den Beifall Derer finden, denen
die moralische Verantwortlichkeit nicht schwer wiegt; nicht selten sind jene
Vorteile in nächster oder ferner Zukunft die Quelle von Verwicklungen und
Nachteilen für den Staat.
Anderseits kann die Politik für das Völkerrecht in mehrfacher Beziehung
Bedeutung gewinnen. Bei dem Umstande, daß das Völkerrecht in lebendiger
Entwicklung begriflen, diese Entwicklung aber durch die Staaten selbst be-
stimmt ist, gewinnt das politische Verhalten der Staaten im Bereich der aus-
wärtigen Politik für die Bildung und Umgestaltung des internationalen Rechts
die höchste Bedeutung, insofern politische Akte als Ausdruck eines rechtlichen
Gedankens }zur Schaffung rechtlicher Normen führen. In einer politischen
Aktion kann auch die für die spontane Weiterbildung und Reform völkerrecht-
licher Materien bedeutsame Initiative liegen. Ferner kann die Politik jener
Staaten, denen infolge ihrer kulturellen Stellung und der Bedeutung ihrer
Machtmittel eine führende Rolle in der Staatengemeinschaft zukommt, die
Austragung völkerrechtlicher Streitfälle durch mäßigenden Einfluß in Bahnen
lenken, in welchen dem oft prekären Recht des Verletzten und damit der
praktischen Bewährung der völkerrechtlichen Ordnung der Sieg gesichert
wird. Eine kluge, den Interessen der internationalen Geineinschaftsordnung
gewidmete Politik kann durch Zusammenfassung der moralischen und poli-
tischen Kräfte gleichgesinnter Staaten (in Allianzen u. s. w.) dem Völkerrechte
die größten Dienste leisten.
IV. Völkerrecht und comitas gentium. !) Die unbestreitbare Analogie
des sozialen Verhaltens der Individuen und der Staaten läßt die Geltung von
Regeln gegenseitigen Verhaltens erkennen, denen nicht die Bedeutung von
Rechtsregeln zukommt, die sich vielmehr durch die der Sitte eigentümliche
Sanktion charakterisieren. Sie wurzeln in der sozialen Geltung der Persön-
lichkeit; ihre Beobachtung bedeutet aber mehr als die von allem Recht vor-
ausgesetzte Anerkennung der Persönlichkeit. Sie gedeihen nur in dem von
höherer Zivilisation vorbereiteten Boden humaner Gesinnung; diese übt teils
auf die Form, teils auf den Inhalt des praktischen Verhaltens im gegen-
seitigen Verkehr einen maßgebenden Einfluß aus. Den Inbegriff von Regeln
dieser Art bezeichnet man zum Unterschied vom Völkerrecht mit dem Aus-
druck „comitas gentium“, „comity“, „courtoisie internationale“. Der Zusammen-
hang der comitas mit dem Motiv der Förderung freundlicher politischer Be-
ziehungen zu anderen Staaten sichert ihr den Wert eines wichtigen impon-
derabeln Faktors im Leben der zivilisierten Völker und eines, wenngleich nur
sekundären Mittels der praktischen Geltung des Völkerrechts. — Bezüglich
der Form des Verhaltens kommen die im Laufe der Jahrhunderte aus-
gebildeten Regeln der Höflichkeit (Courtoisie) in Betracht; auf den Inhalt
des Verhaltens hat jene humane Gesinnung innerhalb der verschiedenartigsten
1) v. Bulmerincq in v. Holtzendurff’s Rechtslexikon s. v. „comitas g.*%; Heffter-
Geffcken $ 3, vgl. mit $$ 194 ff.; v. Holtzendorff, IH 1 8.6Sff.; Rivier, Lehrb. S. 8;
Gareis $9; Leseur, Introduetion p. 45 sq.