Ss. Quellen des Völkerrechts. 39
Lebensverhältnisse der Völker einen verschiedenartigen Einfluß; praktisch
gestaltet sich hier die Beobachtung von Regeln der comitas vielfach als bereit-
willige Leistung dessen, worauf ein völkerrechtlicher Anspruch nicht begründet
ist.) — Im Ganzen ist natürlich derartiges Verhalten durch Gegenseitig-
keit bedingt, während die Forderungen der Moral an eine solche Bedingung
nicht geknüpft sein können: den zivilisierten Staat verpflichten die Moral-
gesetze auch in seinem Vorgehen gegenüber unzivilisierten Völkern, dagegen
besteht diesen Völkern gegenüber keine Pflicht zur Beobachtung der Regeln
der comitas.2) — Nichtbeobachtung dieser Regeln begründet kein Unrecht im
völkerrechtlichen Sinne, begründet also insbesondere keinen Anspruch auf
Schadenersatz, kein Recht zur Zwangsreaktion; dagegen kann sie Anlaß zu
Retorsionsmaßregeln geben.3). — An sich bildet die comitas nicht, wie viel-
fach behauptet worden ist, eine Quelle von Völkerrechtssätzen; dagegen können
einzelne Regeln der comitas allerdings durch autoritative internationale Akte
der Rechtsbildung den Charakter von Rechtssätzen erlangen. ?)
$ 8. Quellen des Völkerrechts.5) I. Es ist schon oben ($ 4) im Zu-
sammenhange mit der Frage der Positivität des Völkerrechts bezüglich der
Bildung von Völkerrechtssätzen auf jene formellen (äußeren, unmittel-
baren, eigentlichen) Quellen von Völkerrechtssätzen hingewiesen wor-
den, die der Eigenart des Völkerrechts®) im Gegensatze zum nationalen Recht
entsprechen. Das Moment autonomischer Bildung des Rechts, welches die
1) Hierher gehört jedoch nicht die vielfach auf comitas (s. oben S. 14) zurückgeführte
Anwendbarkeit fremden Rechts auf Privatrechtsverhältnisse, die in ihrem Tatbestand eine Be-
ziehung zum Auslande aufweisen. Vgl. darüber Asser-Rivier, Eiements de droit inter-
national prive & 5.
2) Vgl. v. Holtzendorff, HH IS. 0.
3) Vgl. Rivier, Lehrb. $ 1 S. 9 Anm. 1: Leseur, Introduction p. 49.
4) Über die Entwicklung des Rechts von bloßer Sitte und Gewohnheit zun: geschriebenen
Recht vgl. Ihering, Geist des röm. Rechts II S. 1, 34, 36.
5) v. Kaltenborn, Kritik S. 231ff. vgl. mit S. 20 ff.; Heffter-Geffcken 8$ 6ff.;
v. Bulmerincq, H 187; F. v. Martens IS. 1S7ff., Hartmann S. I7ff.; Gareis $ 9:
v. Liszt 8 2; Rivier, Principes $ 2; Lehrb. $ 2ff; Ernst Meier, Über den Abschluß
von Staatsverträgen (1874), insbes. S. 36ff.; Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als
Quellen des Völkerrechts (1877); Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatsverträge (1880);
Calvo Ip. 158 sq. und Manuel p. 79 sq.; Renault, Introduction & l’etude du droit inter-
national p. 32 sq.; Despagnet, Cours p. 62 sq.; Leseur, Introduction p. 21 sq.; Weiss,
Manuel de droit international prive XVIlsq.; Meringhac, I, 80; Holland, Elements of
jurispr. (5. ed.) p. 48 sq.; Phillimore, Commentaries I $$ 17 sq.; Wharton, Commentaries
on law 88 42sq.; Oppenheim, I, $$ 155ff. — Siehe auch im allgemeinen zur Quellentheorie:
Adickes, Zur Lehre von den Rechtsquellen (1872); Merkel, Jurist. Enzykl. $$ 121, 829;
Frenzel, Recht und Rechtssätze (1892); Bierling, Juristische Prinzipienlchre I S. 155ff.
und passim. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899); Kaufmann, Rechtskraft des
internationalen Rechts u. s. w. (1599) 2ff.; Jellinck, Systeın der subjektiven Rechte;
Nippold, Die Fortbildung des Verfahrens in internationalen Streitigkeiten 19 ff.
6) Die Eigenart des Völkerrechts wird hier nicht in dem Sinne betont, als ob die
völkerrechtlichen Quellen von jenen der übrigen Rechtsteile dogmatisch verschieden wären.
Dort wie hier entsteht das positive Recht durch Gewohnheit und ausdrückliche Setzung. Nur
ist die dem Völkerrecht eigentümliche Art der Rechtssetzung der Vertrag.