8 170. Das Kriegsrecht im objektiven Sinne. 471
Kulturvölker ein einheitlicher Komplex von Normen betreffs der Kriegführung allgemeine
und grundsätzliche Anerkennung und praktische Anwendung gefunden hat. Der Krieg er-
scheint beute als das Mittel zur Austragung eines bestimmten Konflikts; daher ist das Maß
der Gewaltanwendung im ganzen von vornherein auf den konkreten Kriegszweck beschränkt
Der Kriegszweck soll nur durch die Entfaltung der militärischen Machtmittel angestrebt werden;
daher stehen einander nur die Staaten, nicht die Privaten als Feinde gegenüber !); die Privaten
genießen auch im Kriege Schutz und bleiben im Genuß ihrer Rechte, soweit nicht die Kriegs-
notwendigkeit Beschränkungen rechtfertigt (z. B. durch Ausweisungen der Angchörigen des
feindlichen Staats, Einquartierungen, unvermeidliche Zerstörung von Privateigentum, Requi-
sitionen und Kontributionen). Aber auch die Kombattanten sind unter den Schutz des Rechts
gestellt. Jede Leidenszufügung, die nicht vom Standpunkt der heutigen Kriegführung als
Mittel der Erreichung des Kriegszwecks erscheint, ist verboten. Unter dem Einfluß humani-
tärer Bestrebungen ist die Fürsorge für das Los der verwundeten und kranken Krieger der-
zeit auch unter den Schutz des Feindes gestellt.
Auf dem Boden des derzeit Erreichten bewegen sich die Bestrebungen zur Weiter-
bildung des Kriegsrechts in doppelter Richtung; im Hinblick auf den Wert streng formulierter
und als einheitlicher Ausspruch der Rechtsquelle erschöpfender Rechtssätze strebte die neueste
Zeit eine Kodifikation des Kriegsrechts an. Gleichzeitig handelte es sich aber auch um eine
Humanisierung des Kriegsrechts. Die Kodifikationsversuche waren gleichzeitig Versuche einer
den heutigen Anschauungen angepaßten Humanisierung. Unter jenen Versuchen ist der in
jeder Beziehung bedeutsamste die auf Initiative Rußlands im Jahre 1574 in Brüssel zusammen-
getretene Konferenz. Die Beschlüsse?) dieser Konferenz sind in einer Deklaration (sog.
Brüsseler Deklaration) zusammengefaßt, der aber nur die Bedeutung eines Entwurfs
zukommt, da die Aktion nicht in einem internationalen Vertrage ihren Abschluß gefunden
hat. Die Deklaration hat aber zweifellos zur Fixierung des Kriegsrechts und zur Lösung
wichtiger Fragen de lege ferenda, wie auch zur Klärung der Kodifikationsfrage überhaupt
wesentlich beigetragen; sie bot dem Institut für internationales Recht die Anregung zu einem
überaus verdienstvollen Versuch der Reform des Kriegsrechts, dessen Resultat unter dem
Titel Les lois de la guerre sur terre, Manuel publi@ par V’Institut de droit international im
Jahre 1881 (in Brüssel) veröffentlicht wurde°). Großes Ansehen genießen die im Jahre 1563
in Auftrage des Präsidenten Lincoln von Lieber verfaßten Instructions for the governenients
of armies of the U. 8. in the field (sog. amerik. Kriegsartikel)*). — In unseren Tagen wurde
die Kodifikation des Kriegsrechts und des Neutralitätsrechts durch die Beschlüsse der H K
1899 und 1907 (s. oben S. St und S2) wesentlich gefördert. Für die praktische Anwendung
des geltenden Kriegsrechts ist durch Art. 1 des Abkommens (IV) vom 18. Oktober 1907 auch
dadurch vorgesorgt, daß die Vertragsmächte sich verpflichtet haben, ihren Landheeren Ver-
haltungsmaßregeln zu geben, welche den in dem HKR’) formulierten Gesetzen und Gebräuchen
des Landheeres entsprechen®). Ferner bestimmt das jetzige Abkommen, dal jeder Ver-
stoß gegen das HKR zum Schadensersatze verpflichtet und daß die Vertragsmächte in
1) Dieser Anschauung hat schon der durch die Anerkennung von Grundsätzen eines
humanen Kriegsrechts berühmt gewordene Vertrag zwischen Preußen und den Vereinigten
Staaten von Nordamerika vom 10. September 1785 Ausdruck gegeben.
2) Text in R. VI p. 87 sq., 2$S41sq. und bei Meurer HFK II, 21.
3) Abgedruckt auch in Annuaire V p. 157sq. Berichterstatter und Verfasser des
Manuel war der um die Humanisierung des Kriegsrechts hochverdiente Moynier.
4) Abgedruckt bei Bluntschli, Völkerrecht. — Die Kriegsartikel sind in der Brüsseler
Deklaration, im Manuel des Instituts und in den Verhandlungen der HK verwertet worden.
5) Dem Abkommen vom 29. Juli 1599 bezw. vom 18. Oktober 1907 ist die Ordnuug
der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (HKR) als Anlage beigegen.
6) Derlei Instruktionen wurden schon auf Grund des Abk. v. 29. Juli 1599 in England
(Verf. Holland), Rußland, Italien publiziert; das italienische Dekret enthält sehr strenge
Strafsanktionen.