Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

484 Achtes Buch. Die intern. Streitigkeiten u. deren Erledigung cte. 8 178. 
an die Stelle der bisherigen Konvention tritt.!) Es wurde ein ganz neuer Vertrag 
ausgearbeitet, der von demselben hochherzigen Gedanken getragen ist, der das Werk des 
Jahres 1864 inspiriert hatte, dem aber gleichzeitig die ebenso wichtige wie komplizierte 
Aufgabe gestellt war, die Ergebnisse der Erfahrung und der Doktrin in der Periode von 
1864—1905 zu verwerten, Lücken auszufüllen, Unklarheiten zu beseitigen und einige wenig 
praktische Bestimmungen des Vertrages von 1864 zu beseitigen. Die Konferenz von 1906 war 
insbesondere bestrebt, eine Formulierung der einzelnen Bestimmungen zu finden, welche die 
erwünschte Klarheit und allgemeine Verständlichkeit sichert.2) Es liegt ja nahe, daß in der 
Behandlung der vorliegenden Materie sich juristische, militärische und humanitäre Aspirationen 
kreuzen und die normierende Ordnung des Gegenstandes erschweren. Der Konferenz ist es 
gelungen, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Dies muß insbesondere mit Bezug auf den 
Umstand betont werden, daß die militärischen Interessen im Kriege primäre Beachtung fordern, 
daher oft humanitäre Interessen scheinbar in den Hintergrund gedrängt werden; die Konferenz 
mußte sich daher eine gewisse Reserve in der Richtung auferlegen, daß sie es unterließ, 
Regeln aufzustellen, deren Anwendbarkeit in der Praxis der Macht der Tatsachen weichen 
müßte. Kurz gesagt, die Konvention beschränkt sich auf die Formulierung von Pflichten, 
welche im Kriegsfalle auch wirklich erfüllbar sind; so ist zu hoffen, daß das den Krieg- 
führenden offen gelassene freie Ermessen nicht so leicht mißbraucht werden dürfte.) 
UI. Im Vergleich zur Konvention von 1864 verfolgt die neue Konvention den Zweck, 
im Interesse der Klarheit und der Sicherheit in der Anwendung der Regeln möglichst be- 
stimmte und erschöpfende Vorschriften zu formulieren. Im Hinblick auf mögliche Einschrän- 
kungen der Anwendbarkeit mancher Regel sind mehrfach die Klauseln aufgenommen: autant 
qu’il sera possible- selon que les circonstances militaires le permettront. Die Klauseln lassen 
aber immer noch Erwägungen über die Anwendbarkeit offen.‘) 
1. Die Verwundeten und Kranken. Art. 1 formuliert die Rechtspflicht zum 
Schutz und zur Pfege der Verwundeten und Kranken; diese Pflicht bezieht sich auf Militärs 
und alle anderen den beteiligten Armeen offiziell angeschlossenen Personen, denn der das 
Schlachtfeld besetzende Kriegsteil vermag erfahrungsgemäß seine Aufgabe mit den Mitteln 
seines eigenen Sanitätsdienstes nicht zu erfüllen; dieser Aufgabe dienen auch Nichtkombattanten. 
Die rechtliche Stellung der Verwundeten und Kranken ist derzeit (Art. 2, Abe. 1) 
ausdrücklich geregelt: sie sind als Kriegsgefangene zu behandeln; es entfällt somit die 
Zurücksendung der Geheilten in ihre Heimat. Man entschied sich jedoch für gewisse 
Milderungen der Strenge des Prinzips (Art. 2, Abs. 1). Ebensowenig schloß sich die Konvention 
der früheren Norm bezüglich der Zurücksendung der geheilten aber dienstunfähigen 
Militärs an. Man begnügte sich mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, Verwundete oder Kranke 
die der Belligerent nicht mehr kriegsgefangen halten will, dem Gegner zurückzusenden. Da- 
gegen wurde im Anschluß an die Haager Konvention vom 29. Juli 1899 betr. die Ausdehnung 
der Genfer Konvention auf den Scekrieg (Art. 9 — derzeit Art. 14 des Abkommens X HK 1907) 
die Bestimmung aufgenommen, daß die Verwundeten und Kranken der gegnerischen Armee 
nach einem neutralen Staat mit dessen Zustimmung und unter der Bedingung der 
Internierung entlassen werden können. — Eine Pflicht zu absolutem Schutz gegen Plünderung 
  
1) Über die neue Konvention s. die Ausführungen des Sekretärs der Konferenz Van- 
nutelli, La Revisione della Conv. di Ginevra in Rivista di Dir. intern. ], p. 421 sq. Text der 
Konvention ebenda. Siehe ferner Meurer in Koblers Ztschr. I. 521ff. Meine Ausführungen 
im Jalhrb. d. ö6. R. I, 122ff. 
2) Vgl. Renault, RKapport presente A la conference pleniere an nom du Comite de 
Redaction p. 3. 
3) In formaler Beziehung ist zu bemerken, daß man den Vortragsstoff nicht auf eine 
Konvention und ein dieser beizufügendes Reglement verteilt hat. 
4) In terminologischer Beziehung entschied man sich an Stelle der unzutreffenden 
Ausdrücke neutral und Neutralität in der Konvention von 1864 für eine sachgemäßere 
Terminologie (unter Ablehnung des Ausdrucks inviolabilite); die Konvention gebraucht die 
Ausdrücke respeeter und protöger (vgl. z. B. Art. 6).
	        
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