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geben. Sieht man von den eine selbständige formelle Quelle des Völkerrechts
bildenden rechtsetzenden Verträgen (s. u. sub III) ab, so können Staats-
verträge im übrigen als maßgebende Äußerungen der Rechtsüberzeugung
der Kontrahenten, als Tatsachen in Betracht kommen, denen die Bedeutung
eines Akts der Gewohnheit zukommt: sie bestätigen im einzelnen Falle das
Bewußtsein der Kontrahenten von der Notwendigkeit eines bestimmten Vor-
gehens oder Verhaltens, vielfach in der Überzeugung von der Existenz einer
verbindlichen Norm. — Die gleiche Bedeutung für die Bekundung der Rechts-
überzeugung des Staats kommt mancherlei nationalen Gesetzgebungs-
akten!) zu, soweit sie internationale Verhältnisse zum Gegenstande haben,
so insbesondere Gesetzen, welche das Auslieferungsrecht?), das Prisenrecht,
das Seewesen 3), das Konsularwesen, die diplomatische Vertretung regeln, ferner
den Neutralitätsgesetzen usw., wobei natürlich nicht entscheidend ist, ob diese
Gegenstände in Gesetzen im engeren Sinne oder in rechtsverbindlichen Ver-
ordnungen u. Ss. w. geregelt sind.*) Alsnationale Willensakte besitzen derlei
Gesetze formelle Geltung nur in dem Staatsgebiet, für welches sie erlassen
sind; für das Völkerrecht haben daher derlei Gesetze keine formelle
Bedeutung; ihr Inhalt kann aber die formelle Bedeutung völkerrecht-
lichen Gewohnheitsrechts dadurch erlangen, daß eine betreffende Maxime
in den Gesetzen verschiedener Staaten konstant Anwendung findet. Die Ge-
setze selbst bekunden dann nur das Vorhandensein von Gewohnheitsrecht, für
dessen Beweis ihnen in objektiver Beziehung Bedeutung zukommt. — Unter
obigem Gesichtspunkt kommen hier auch die Entscheidungen nationaler Ge-
richte in Auslieferungssachen, über Fragen der Immunität diplomatischer
Personen, prisenrechtliche Sachen, Piraterie u. s. w., sowie die Entscheidungen
internationaler Schiedsgerichte in Betracht. Über einstimmende Entscheidungen
bekunden die gleichmäßige Anwendung einer vorhandenen völkerrechtlichen
Regel oder bilden den Ausgangspunkt für die Schaffung eines Rechtssatzes
durch Übung. — Im ganzen betrachtet bieten Verträge, Gesetze und richter-
liche Entscheidungen das Material für die Erkenntnis der Existenz bezw.
der Bildung von Rechtssätzen. Der Erkenntnis völkerrechtlicher Gewohn-
heiten dienen überdies die allgemeine Geschichte, die Geschichte diplomatischer
Verhandlungen, das diplomatische Aktenmaterial betreffend die Abschließung
1) Im Allgemeinen vgl. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze S. 102ff., insbesondere
S. 104 sub. 2-
2) Auslieferungsgesetze besitzen derzeit Belgien (1874), Holland (1875), England
(1870 und 1873), Luxemburg (1870), Canada (1877), Argentinien (1885), die Schweiz
(1691). Über Auslieferungsgesetze Bernard, Traite theorique et pratique de l’extradition II
p- 32, 40, 46, 54; Lammasch, Auslieferungsrecht und Asylrecht S. 105ff.
3) 2. B. die französische Marine-Ordonnanz Ludwig’s XIV. v. J. 1651 (zum Teil
auf dem in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen Guidon de la mer beruhend). —
Vgl. Perels, Int. öff. Seerecht S. 9.
4) Da derlei Gesetzgebungsakten als Bestandteilen der nationaleu Rechtsordnung die
Zwangsmittel des Staats zur Verfügung stehen, umfaßt die staatliche Zwangsgewalt implicite
auch betreffende Völkerrechtssätze, dio in den nationalen Gesetzen Anwendung gefunden
haben. — Gut die Bemerkungen von Leseur, Introduction p. 23 in der Anmerkung in Ver-
bindung mit p. 26 (oben).