Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

& 190. Die Neutralität. 617 
  
den Wendepunkt in der rechtlichen Ausbildung der Neutralität, zugleich aber auch eine be- 
deutsame Manifestation des gemeinsamen Rechtsbewußtseins der Glieder der internationalen 
Gemeinschaft, die nmso höher in ihrem Werte anzuschlagen ist, als sie die Weiterbildung 
jenes Teiles des Völkerrechts vorbereitete, der amı meisten zurückgeblieben ist, nämlich des 
Sceekriegsrechts. Die kriegerischen Vorgänge der Revolutionszeit und das völkerrechtswidrige 
Vorgehen Napoleons I. unterbrachen diese Entwicklung; anerkannte Grundsätze des Neutralitäts- 
rechts wurden von jenen Staaten selbst mißachtet, die sich um deren Geltung verdient ge- 
macht hatten. Die Mißachtung der Rechte der Neutralen führte zur zweiten bewaffneten 
Neutralität (1500), durch deren Art. III die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts schwebende 
Frage der Freiheit der Neutralen von der Durchsuchung konvoyierter Schiffe geregelt werden 
sollte'). Diesem Anspruch der Neutralen widersetzte sich England, verstand sich aber schließlich 
zu einem Kompromiß, das in dem Vertrage mit Rußland vom 17. Juni 1801 (und in Verträgen 
mit Schweden und Dänemark 1802) zum Ausdruck kam. — Außer den Verdiensten, welche 
sich die schweizerische Eidgenossenschaft für die Anerkennung fester Neutralitätsgrundsätze 
erworben hatte, kommt in gleichem Sinne auch das Verhalten der nordamerikanischen Union 
in Betracht, insbesondere die Neutralitätsproklamation Washingtons vom 22. April 1793 
und der Versuch des Präsidenten Monroe (1823) betreffend den Abschluß einer internationalen 
Konvention zur Regelung der Rechte und Pflichten der Neutralen 2ı. 
Der Wiener Kongreß beschäftigte sich mit dem vorliegenden Gegenstande nicht. Eine 
namhafte Weiterbildung fand das Neutralitätsrecht erst durch die Beschlüsse des Pariser 
Kongresses in der Deklaration vom 16. April 1856 durch die Formulierung folgender zwei 
Grundsätze: 1. Le pavillon neutre couvre la marchandise ennemie, & l’exception de la contre- 
bande de guerre und 2. I,a marchandıse ncutre, & l’exception de la contrebande de guerre, 
n’est pas saisissable sous pavillon ennemi. Seither trat das Bedürfnis einer erschöpfenden 
Regelung des Neutralitätsrechts immer lebhafter hervor. Das Institut für intern. Recht nahm 
den Gegenstand (1906 — Annuaire XXI) in Angriff, ohne jedoch zu einem abschließenden 
Ergebnis gelangt sein. Schon vorher hatte aber die HK 189%, die Wichtigkeit der Frage 
erkennend, den Wunsch universeller Regelung ausgesprochen. Diesem Wunsche kam die 
HK 1907 in zwei Abkommen (V und XIIl betr. die Rechte und Pflichten der Neutralen im 
Landkrieg und im Scekrieg nach, womit die Weiterbildung dieser Materie ihren vorläufigen 
Abschluß gefunden hat. 
II. Arten der Neutralität. Es hängt von dem Ermessen jedes souveränen Staates 
ab, für einen der Streitteile Partei zu ergreifen und an dem Kriege teilzunehmen. Insofern 
spricht man von freiwilliger Neutralität im Gegensatze zu der vertragsmäßigen (kon- 
ventionellen, obligatorischen) Neutralität. Von der letzteren unterscheidet sich hinwieder die 
durch internationalen Vertrag begründete dauernde Neutralität; hier ist die Neutralität im 
  
1) Im späteren Mittelalter wurden Handelsschiffe durch Kriegsschiffe zum Schutze gegen 
Seeraub geleitet; seit der Anerkennung des Durchsuchungsrechts der Krieführenden hielt man 
an dieser Übung fest zum Schutze des legitimen Handels, indem durch die Erklärung des 
Befehlshabers des geleitenden Schiffes, daß die unter seinem Schutze stehenden Handelschiffe 
keine Kriegskontrebande an Bord führen, die Untersuchung der Schiffe abgeschnitten werden 
sollte. Siehe darüber Näheres bei Geffcken, HH IV S. 624, 625, 628. 
2) Mit Bezug auf Bürgerkriege, insbesondere den amerik. Sezessionskrieg, wird die 
Meinung vertreten, daß das Neutralitätsrecht keine Anwendung finden könne; diese setze einen 
„eigentlichen Krieg“, ein bellum publicum voraus. Durch Anerkennung der Rebellen als 
Kriegführende könne nichts an dem Charakter des Krieges geändert werden. „Daher fallen 
sowohl die Alabama-Fälle, als auch der Deerhound-Fall (1873) und der Virginius-Fall (1873) 
nicht unter die Verletzung der Neutralitätsgesetze.*“ So Bulmerincgq in Holtzendorff's Rechts- 
lexikon s. v. „Neutralitätsgesetze“. Die Beteiligten batten allerdings eine andere Ansicht, 
wie dies deutlich aus dem zum Zwecke schiedsgerichtlicher Entscheidung des Alabama-Falles 
zwischen England und der Union zu Washington 1871 abgeschlossenen Vertrage und der 
Genfer Entscheidung sich ergibt. Vgl. übrigens die Akten dieses Falles; The case of the 
United States etc. Washington, Government Printing office, 1871.
	        
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