48 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 88.
an die Beobachtung der Gesetze gebunden ist, weil sie Gesetze sind, ist
auch der einzelne Kontrahent an die Beobachtung der Normen gebunden, weil
er in dem Vertrage als dem rechtsetzenden Akte seinen Willen in rechtlich
maßgebender Weise gebunden hat. Wie im Staate der Grundsatz gilt, daß
ein Gesetz so lange Anwendung finden muß, als es nicht abgeändert oder auf-
gehoben ist und damit die Willkür ausgeschlossen sein soll, so hat auch im
Völkerverkehr die Normierung von Rechtssätzen die Bedeutung einer Ver-
pflichtung der Beteiligten zu einem bestimmten Verhalten, von dem (in recht-
licher Beziehung) nicht willkürlich abgegangen werden kann, so lange der
ursprünglich erklärte Wille nicht durch eine Abänderung oder Aufhebung des
Vertrags eine Änderung gefunden hat. Um deswillen können die rechtsetzen-
den Verträge bezüglich ihrer verpflichtenden Kraft nicht eine andere Be-
urteilung finden !), als Verträge, in denen sich ein Staat einem anderen Staate
gegenüber zu einer Leistung verpflichtet u:s. w.2) Wollte man nicht an-
nehmen, daß auch bei den rechtsetzenden Verträgen für die einzelnen Kon-
trahenten das Recht gegeben ist, auf Grund des Vertrags die Beobachtung
vereinbarter Normen zu verlangen, so wäre die Vertragsabschließung ein
rechtlich und praktisch ganz belangloser Vorgang. Es liegt ein Widerspruch
darin, den Vertrag als eine Form der Schaffung objektiver Rechtsnormen an-
zuerkennen und gleichwohl diesem objektiven Recht alle Macht gegenüber
den Beteiligten abzusprechen. Gleichwie im Rechtsstaat die praktische Gel-
tung des Gesetzes in Fällen der Nichtanwendung durch Verwertung der
konstitutionellen Garantien der Geltung des Rechts immer nur durch den
HinweisaufdasGesetz selbst und dessenfortdauernde Existenz er-
zielt werden kann, so wird gegenüber der Nichtbeachtung vereinbarter Normen
seitens eines Kontrahenten die Geltung der Normen durch Berufung der
anderen Kontrahenten auf den Vertrag bewirkt werden können.) Wegen
zwei Konventionen niedergelegt. Die erste Konvention beschäftigt sich mit der Schaffung
der Grundlagen einer gleichmäßigen strafrechtlichen Repression des Frauenhandels durch ent-
sprechende Ergänzungen der Strafgesetzbücher der Signatare. Das Beispiel dieser Konven-
tion zeigt deutlich, wie in unseren Tagen die internationale Gemeinschaft den Schutz und die
Pflege solidarischer Interessen in Angriff nimmt und wie die an dieser Gemeinschaft be-
teiligten Staaten die praktische Lösung internationaler Probleme durch Akte ihrer
nationalen Gesetzgebungsgewalt bewirken.
1) Diesem Grundsatze, der sich aus der Vertragsnatur ergibt, entspricht auch die solenne
Erklärung der Mächte auf der IL,ondoner Konferenz vom 17. Januar 1871 (siche oben S. 17
Anm. 2); diese Erklärung lautet allgemein. ohne eine einschränkende Unterscheidung der ver-
schiedenen im Völkerverkehr vorkommenden Verträge.
2) Anders Bergbohm, Staatsverträge S. 88 ff., der einerseits für die Schaffung von
Normen des Völkerrechts eintritt, anderseits aber derlei Verträgen (im Gegensatze zu jenen
rechtsgeschäftlichen Inhalts) den Vertragscharakter abspricht. Siehe dagegen Frickor a.a 0.
S. 351 ff. und Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag S. 42 ff. Ähnlich wie Bergbohm,
Jcellinek, System der subj. öff, Rechte S. 290, der die rechtssetzenden Verträge als gemein-
same irrevokable Erklärungen bezeichnet.
3) Wenn Bergbohm, Staatsverträge S. 90 meint, daß wegen Nichtanerkennung solcher
Normen wohl schwerlich ein Krieg geführt werden dürfte, so wäre zu erwidern, daß die
Unterlassung der Zwangsreaktion im Völkerrecht eine häufig vorkommende Erscheinung ist,
aus der aber kein Schluß auf die prinzipielle Zulässigkeit und Möglichkeit des Zwangs ge-