52 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 89.
der Einzelstaat kann niemals durch einseitige Gesetzgebungsakte dritten
Staaten Normen des Verhaltens vorschreiben. Dagegen haben Landesgesetze
eine nicht zu unterschätzende mittelbare Bedeutung für das Völkerrecht,
einmal insofern in ihnen völkerrechtliche Maximen zum Ausdruck und zu
praktischer Anwendung gelangen und in ihnen ein Erkenntnismittel
völkerrechtlicher Grundsätze zu erblicken ist '!), sodann insofern in der Existenz
solcher Gesetze ein Moment liegt, auf welches dritte Staaten sich immerhin
berufen dürfen, um den betreffenden Staat zur Beobachtung eines von ihm
selbst anerkannten, aber im konkreten Falle verleugneten Grundsatzes zu
verweisen und dadurch eventuell die Befolgung des Grundsatzes herbeizu-
führen.2) Im übrigen ist auf dem Boden des heutigen Völkerrechts und des
praktischen Verhaltens der an der Schaffung der internationalen Rechts-
ordnung beteiligten zivilisierten Staaten zu beachten, daß für betreffende
nationale Gesetzgebungsakte sich stetig die Gelegenheit ergeben wird, die
heute nicht mehr zu vermeidende sachliche Beziehung der nationalen und
internationalen Interessen im Auge zu behalten. So werden oft in nationalen
Gesetzen rechtliche Gedanken über Lebensverhältnisse, die eine Beziehung
zu gleichmäßigen Interessen anderer Staaten der heutigen internationalen
Gemeinschaft in thesi aufweisen, zum Ausdruck kommen; allein als Ausdruck
des souveränen Willens eines einzelnen Mitglieds besitzen sie nicht die
Autorität einer anerkannten internationalen Rechtsquelle; diese Autorität be-
ruht vielmehr sachlich in der internationalen Rechtsüberzeugung und
formell in der Bekundung derselben in der Form der Gewohnheit oder des
Vertrags. Es tritt also auch hier der Zusammenhang des Völkerrechts und
seiner Normen mit der Existenz der Staatengemeinschaft und der spezifischen
Betätigung des Willens der Staaten innerhalb dieser Gemeinschaft und zum
Schutz der solidarischen Interessen der Staaten als Völkerrechtssubjekte in
den Vordergrund.
Diese gegenseitige formelle Selbständigkeit der völkerrechtlichen
und landesrechtlichen Normen bringt es mit sich, daß die Landesgerichte
Völkerrechtssätze erst dann anzuwenden verpflichtet sind, wenn sie Bestand-
teile des nationalen Rechts geworden sind; dies tritt auf das klarste bei den
1) Despagnet. Cours p. 7i verweist mit Recht auf die Bedeutung der landesrechtlichen
Bestimmungen Englands und Frankreichs im Beginne des Krimkriegs für das Zustandekommen
der Pariser Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856.
2) Vgl. im ganzen Gareis a. a. O.: „Möglicherweise ist aus den gesetzlichen Bestim-
mungen eines Staates darauf zu schließen, daß dieser sich völkerrechtlich für verpflichtet hält
oder eine völkerrechtliche Verpflichtung durch seine Gesetzgebung zu erfüllen trachtet; man
kann aus Staatsgesetzen schließen auf das Dasein der Interessengemeinschaft, auf die An-
erkennung eines gemeinsamen Interesses, auf das Vorhandensein eines Schutzes eines
solchen, auf das Dasein einer völkerrechtlichen Verpflichtung und auf die Erfüllung der-
selben. Es ist sogar möglich und häufig der Fall, daß Interessen des internationalen Verkehrs
durch staatliche Gesetze erfolgreich geschützt werden, ohne daß in den letzteren Gesetzen eine
völkerrechtliche Norm aufgestellt oder ausgesprochen wird, oder daß die Interessen eines ein-
zelnen Staates, welche dieser als solche durch seine Gesetzgebung schützt, zusammenfallen mit
Interessen aller Staaten, so daß letztere, wenn auch unbeabsichtigt, mitgeschützt werden.“ Als
Beispiele führt Gareis an: Deutsches RStGB. $$ 145, 146.