8 10. Geltungsgebiet des Völkerrechts. 55
Verhältnis dieser Staaten zu jenen der christlichen Zivilisation manche Un-
bestimmtheit auf; auch kann die volle Gleichstellung sich nur allmählich in
dem Maße vollziehen, als der Verkehr mit jenen Staaten verläßliche Symptome
einer wirklichen Assimilation in politischer und rechtlicher Beziehung zeigt. Die
Entwicklung der geschichtlichen Ereignisse, die zur Ausdehnung des Geltungs-
gebietes des von den christlichen europäischen Völkern geschaffenen Völker-
rechts geführt haben, dokumentiert zweifellos die weltgeschichtliche Mission
dieser Völker, einer Ordnung des Weltverkehrs zum Siege zu verhelfen, die
jedem Volke einen gesicherten Anteil an den Wohltaten dieses Verkehrs ge-
währleistet — ohne Rücksicht auf rassenmäßige und konfessionelle Eigen-
art und individuelle Kulturbestrebungen. Es liegt im Wesen alles Rechts,
die homogenen sozialen Kräfte für die Aufgaben der menschlichen Kultur in
dem Maße zusammenzufassen, als dies notwendig ist, um eine dauernde
und wirksame Ordnung der sozialen Beziehungen sicherzustellen. Dies ist
aber hinwieder nur möglich, wo der Wille, diese Ordnung auch praktisch
anzuerkennen, vorhanden ist; der Genuß dieser Ordnung beruht auf Gegen-
seitigkeit, das ist auf der gegenseitigen Achtung betreffender Rechte und
Pflichten, ohne welche jene Ordnung weder denkbar noch möglich ist. Daher
ist die Anwendbarkeit des Völkerrechts auf unzivilisierte, barbarische und
halbbarbarische Völker von vornherein ausgeschlossen. Eine davon durchaus
verschiedene Frage ist aber die, ob zivilisierte Staaten bei der Anknüpfung
des Verkehrs mit solchen Völkern die notwendigsten Forderungen des Völker-
rechts unbeachtet lassen dürfen. Die Frage ist entschieden zu verneinen —
aus Gründen, die mit dem Verhältnis von Völkerrecht und Völkermoral
(s. oben S.36, 37) auf das engste zusammenhängen !). Anderseits ist allerdings
jede Rechtsgemeinschaft hier ausgeschlossen, weil deren wesentliche Be-
dingungen auf Seite jener Völker fehlen.
II. Der Umfang der Geltung des Völkerrechts bedeutet gleichzeitig den
Umfang der internationalen Gemeinschaft (Communaut6 du droit des gens, la
famille des nations, the family of Nations), deren Erweiterung im Laufe
der neueren Zeit durch die Ausdehnung der Anwendbarkeit und Geltung des
Völkerrechts auf Staaten anderer Zivilisationskreise sich allmählich vollzogen
hat. Vorher vollzog sich die Ausdehnung des Geltungsgebiets des Völker-
rechts auf die christlichen Staaten Amerikas. Zu den selbständigen christ-
lichen Staaten anderer Weltteile gehören die christlichen Negerrepubliken
von Liberia und Haiti. Auf Grund des Art. 7 des Pariser Vertrags vom
Jahre 1856 wird die Türkei von den Signatarmächten?) „der Vorteile des
öffentlichen europäischen Rechts und des europäischen Konzerts“
teilhaftig erklärt. In eine engere Beziehung zu dem „europäischen Konzert“
trat in neuester Zeit Japan), dessen politische Bedeutung und Einfluß auch
1) Ob das Verhalten in der Praxis den Forderungen der Völkermoral auch wirklich
entspricht, ist eine Frage, die leider nicht allgemein bejalıt werden kann. Vgl. in dieser Be-
ziehbung Oppenheim I, $ 29.
2) Frankreich, Oesterreich, England, Preußen, Rußland, Sardinien.
3) Siebold, Der Eintritt Japans in das europäische Völkerrecht (1900); Vgl. auch