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sind einzelne jener Mächte, die damals aus durchaus zureichenden Gründen
den Beitritt abgelehnt hatten (in erster Reihe Spanien und Mexiko) im Laufe
der Verlıandlungen der zweiten Haager Konferenz 1907 beigetreten.!) Im ganzen
ist die Deklaration heute als allgemeines Völkerrecht auch praktisch in Geltung.
Im übrigen war jedoch durch die von Aspirationen auf das Prinzipat
in Europa beherrschte Politik Napoleons III. und dessen Pläne bezüglich
einer Neugestaltung der auf den Verträgen des Jahres 1815 ruhenden Ver-
hältnisse in Europa nach dem Nationalitätenprinzip eine neue
Quelle von Streitfällen geschaffen worden. Schon in den fünfziger Jahren
wurden jene Pläne vorbereitet; die Wirksamkeit des neuen politischen Prinzips
nahm aber erst ihren Anfang mit dem italienischen Kriege des Jahres 1859.
$ 17. Fortsetzung. VII. Von 1856 bis zur Gegenwart. Die Erfolge
des Nationalitätenprinzips in dieser Periode sind indessen nicht durchweg der
Ausdruck des Gedankens, daß die ethnischen Grundlagen des Staates und die
Koexistenz von Staaten mit homogener Bevölkerung eine größere Gewähr
der Erhaltung der Ordnung und des Friedens bilden, als das künstliche Mittel
der Erhaltung des politischen Gleichgewichts. Die Geschichte zeigt, daß die
Erfolge dieses Prinzips vielfach nicht auf seiner überzeugenden Kraft und
darauf beruhenden Entschlüssen der Staaten, sondern der machtvollen und
gewaltsamen Betonung egoistischer Interessen beruhen. Der Wert des Prinzips
wurde jedenfalls überschätzt; dies zeigt sich sofort, wenn man die logischen
Konsequenzen in die Tat umsetzen wollte u. z. in Staaten mit gemischter
Nationalität. Napoleon III, der seine politische Mission auf demokratischer
Grundlage aufgebaut hatte, mochte in dem Nationalitätenprinzip für den
Bereich der internationalen Politik ein Korrelat des demokratischen Ausgangs-
punkts seiner Herrschaft erblicken und insofern würde seine Politik in ge-
wissem Sinne eine Reproduktion des Standpunkts der ersten Revolution und
der damaligen Versuche bedeuten, den demokratischen Standpunkt des fran-
zösischen Volkes auch bei anderen Völkern zur Geltung zu bringen. Ent-
scheidend war aber doch für Napoleon III. das Vorbild Napoleons I., nämlich
dessen Prinzipatbestrebungen, für deren Verwirklichung ihm gerade das
Nationalitätenprinzip als geeignete Waffe gegen die auf historischen Rechts-
titeln beruhenden Verhältnisse Europas erschien. Im übrigen läßt sich nicht
verkennen, daß dieses Prinzip eine schwere Gefahr für die Erhaltung der
Gemeinschaftsordnung der Staaten insofern in sich birgt, als es dem nationalen
Chauvinismus Vorschub leistet, der den Frieden in ähnlicher Weise, wie in
früheren Zeiten die dynastische und Kabinetspolitik bedroht. Im Hinblick
auf die politischen Umgestaltungen in Europa während dieser Epoche wird
ein besonnenes Urteil zwischen den Ursachen der einzelnen politischen Neu-
bildungen wohl unterscheiden müssen. Sie sind in juristischer und politischer
Beziehung keinesfalls gleich zu bewerten; auch hat das Nationalitätenprinzip
bei den einzelnen geschichtlichen Vorgängen in durchaus verschiedener Weise
fungiert, zuweilen aber gar keine Rolle gespielt, sodaß die allgemeine
1) Die Erklärung wurde am 27. Sept. 1907 in der Konferenz verlesen.