§ 90. Die Verfassungsurkunde des Königreichs Bayern. Tit. II. 467
Verhältnissen ein höherer zukommt. Niemand ist zur Annahme eines Staats-
ministeriums verpflichtet.
Art. II. Die vorübergehende Leitung der Geschäfte eines Staatsministeri-
ums durch einen vom Könige zu bestimmenden Staatsrat oder Votstand eines
anderen Ministeriums darf nur stattfinden:
1) wenn der wirkliche Staatsminister an der Ausübung seines Amtes ver-
hindert ist,
2) insolange die sofort einzuleitende Wiederbesetzung eines erledigten
Staatsministeriums zu keinem Resultate geführt hat.
Art. IIII. Ein Staatsminister kann zu jeder Zeit um Enthebung von
seiner Stelle bitten. Dieselbe darf ohne Rücksicht auf § 24 der neunten Verfas-
sungsbeilage nicht verweigert werden, wenn sie aus dem Grunde erbeten wurde,
weil der König in wichtigen Regierungsangelegenheiten die Ratschläge Seines
Ministers nicht annehmen zu können glaubt.
- Dem auf diese Weise infolge seiner Bitte sowie dem aus eigenem Antriebe
des Monarchen enthobenen Staatsminister verbleibt der Standesgehalt unge—
schmälert.
sch Art. IV. Der König wird seine Regierungsanordnungen jedesmal von
den Ministern oder von den zeitlichen Stellvertretern gegenzeichnen lassen, in deren
Geschäftskreis die Sache einschlägt.)
Ohne solche Gegenzeichnung sind die besagten Anordnungen nicht voll-
iehbar.
zieh Art. V. Derjenige Staatsbeamte, welcher den Vollzug einer ohne mini—
sterielle Gegenzeichung ergangenen Regierungsanordnung des Königs auf sich nimmt,
macht sich des Mißbrauchs der Amtsgewalt schuldig.
Art. VI. Jeder Staatsminister und jeder, welcher vorübergehend mit der
Leitung eines Staatsministeriums betraut ist, übernimmt durch die Gegenzeich-
nung königlicher Entschließungen, sowie durch die Unterzeichnung der in eigener
Kompetenz getroffenen Ministerialverfügungen die volle Verantwortlichkeit für deren
Inhalt.
Art. VII. Hält der Vorstand eines Staatsministeriums eine ihm ange-
sonnene Amtshandlung für gesetzwidrig oder dem Landeswohl nachteilig, so ist er
verpflichtet, dieselbe abzulehnen, bezw. seine Gegenzeichnung unter schriftlicher
Angabe der Gründe zu verweigern. Er ist berechtigt, seine Gründe dem Minister-
rate darzulegen, dessen Protokoll dem Könige vorzulegen ist.
Art. VIII. Jedem wirklichen oder abgetretenen Staatsminister oder Ver-
weser eines Staatsministeriums dürfen die amtlichen Behelfe zur Rechenschafts-
ablage über seine Amtsverwaltung nicht vorenthalten werden, wenn er derselben
zu seiner Rechtfertigung vor dem Könige oder den Ständen des Reiches bedarf.
Art. IX. Ein Staatsminister oder dessen Stellvertreter, der durch Hand-
lungen oder Unterlassungen die Staatsgesetze verletzt, ist den Ständen des Reiches
verantwortlich und kann auf deren Anklage mit Rücksicht auf den Grad des Ver-
schuldens und auf den Erfolg der Pflichtverletzung ·
1) mit einfacher Entfernung vom Dienste unter Belassung des ihm nach
§ 19 der Verf.-Beil. IX gebührenden Ruhegehaltes,
2) mit Dienstesentlassung ohne Ruhegehalt oder
3) mit Dienstesentsetzung — Kassation —
bestraft werden.
Art. X. Erachten die Stände des Reiches die Voraussetzungen des
Art. IX für gegeben und demnach durch ihre Pflicht sich aufgefordert, gegen einen
Minister oder Minister-Stellvertreter förmliche Anklage zu erheben, so wird der
König, nachdem das durch Tit. X § 6 Abs. 1 und II der Verf.-Urk. vorgeschrie-
bene Verfahren stattgefunden hat, den Angeklagten vorläufig suspendieren und die
)Siehe hiezu § 8 Ziff. 2 des Landt.-Absch, vom 4. Juni 1848 (Web. Z, 6835).
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