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zurückstehenden nationalen Parteien deutlich hervortrat, die Wahl-
reformgesetze in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht als ein De-
finitivum, sondern nur als eine Entwicklungsstufe auf dem Wege
zur vollen Gleichheit auf bloss numerischer Grundlage der
Bevölkerung zu behandeln. Aufrichtige Anhänger fand die Wahl-
reform in ihrer gegenwärtigen Gestalt nur an den sozialpolitischen
Parteien, den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten, welche
dasnationale Momenthinter dem wirtschaftlichen zurücktreten lassen.
‚ Die Festhaltung der bisherigen Richtungslinie der öster-
reichischen Politik, deren Leitmotiv in den letzten Jahrzehnten
die Entwicklung des gesamten Öffentlichen Lebens auf Grundlage
der nationalen Gestaltung bildete, in der gegenwär-
tigen Wahlreformaktion ® erklärt aber auch die verhältnismässig
glatte Durchführung derselben im Vergleiche zu den Stürmen,
welche die Wahlreform vom Jahre 1873 erregte. Durch diese
wurde bekanntlich an Stelle der indirekten Wahlen der Reichs-
ratsabgeordneten aus den Landtagen das direkte Reichsratswahl-
recht gesetzt. Damals handelte es sich um das wichtigste Pro-
blem der österreichischen Politik, den Ersatz der föderalistischen
Organisation des Staates durch die zentralistische. Die gegen-
wärtige Reform ändert aber eigentlich nur den Einfluss der
wirtschaftlichen Kreise auf das Staatsleben, deren Gegen-
satz gerade in den letzten Jahrzehnten im Vergleiche zu den
nationalen Sonderbestrebungen weniger heftig oder mindestens
weniger lärmend sich in der Oeffentlichkeit geltend machte.
Nach diesen Andeutungen kann die österreichische Wahl-
reform als die Beseitigung des Klassenwahlrech-
tes und Ersatz durch ein Volkswahlrecht auf natio-
naler Grundlage gekennzeichnet werden.
1906: „Was hier geschaffen ist, ist eigentlich nichts anderes als eine ein-
vernehmliche Auseinandersetzung der Nationalitäten über ihren An-
teil an der politischen Macht“ (Sten. Prot. XVII. Sess. S. 39620),