Full text: Ratgeber für deutsche Lehrer und Erzieher

8 Erziehungsiehre und Staatslehre im allgemeinen. 
jeine bejondere Erziehungslehre. Keine Erziehungdlehre ift allgemein gültig, 
die den Anfprucdh erhebt, inhaltlich allein gültig zu fein‘). Diejen An- 
har aber erhebt jedmede Philofophie und philofophifche Erziehungsmiffen- 
aft. 
Die Erziehungslehre, welche fi auf den GStaatögebanten ftükt, muß 
deshalb auf die philofophifche Grundlegung verzichten; denn diefe vereint 
nicht, jondern jpaltet; fie bildet Parteien, nicht das große Ganze eines 
Staates. Aus diefem Grunde darf aber audy die Staat3erziehungslehre fich 
nicht in einen fchroffen Gegenfaß zu den Shitemen der philofophifchen Päda- 
gogit jegen; jo mie der Staat duldjam ift gegen alle Glaubenglehren, fo muß 
auch die Staatserziehungslehre duldfam fein gegen alle philofophifchen Shy- 
jteme, welche den Staatsgedanfen nicht an fich befämpfen. Daraus folgt, 
daß Die Staatserziehungslehre nicht die auf befenntnismäßigem Grunde auf- 
erbauten Fitchenerziehungslehren befämpfen darf; denn mie der Staat die 
Kirchen duldet, fobald fie ihn dulden, fo muß aud) die Staatserziehungslehre 
jämtliche Kirchenerziehungslehren dulden, die den Staatsgedanfen als ein Er- 
ziehungsziel gelten laffen. 
Darum ift es nicht im Sinne der Staatälehre und der Gtaatäfunft, wenn 
man den Kirchenlehren die Schule verjchließt, bloß deshalb, weil e3 noch feine 
oder nicht mehr eine „deutfche Religion”, einen einheitlichen deutfchen Glauben 
gibt. Solange da3 alte Deutfche Reich die eine römisch-fatholiihe Glaubenzs- 
lehre ala die „dDeutfche Reichsreligion” anfah, gehörte fie zu einer Forderung 
der Staatserziehung; denn e3 Zonnte feinen deutichen Neichdbürger geben, 
der nicht zugleich römischer Katholif war. NRömifch-katholifch zu fein, war die 
allererfte Grundforderung an den deutihen Neichsbürger. Iede Erziehung 
war reidyd- und ftaatswidrig, die nicht Fatholiich mar. 
Der neuzeitlihe Verfaffungsitaat ft Hinfihtlih des Glaubens duldfam 
und unfeitig, parteilos, neutral. Das jchließt zugleich wichtige Gebote für 
die Erziehung ein. Keine Erziehungslehre entjpricht dem verfafjungsmäßig 
gemährleifteten Grundgefege der Glaubenäfreiheit, wenn fie den Anfprud er- 
hebt, daß ihre zugrunde gelegte philofophifche, religionsphilofophifche Welt- 
und Lebensanfhauung die allein richtige fei. Gründeten mir die Gtaat$- 
erziehungglehre auf daS fogenannte allgemeine Chrijtentum, auf den gemein- 
famen reinen GEingottglauben, m fo die befondern Kirchenlehren ausichliegen 
zu Zönnen, fo würden mir nicht dad Gemeinfame fördern und die Einigfeit 
unter den Bürgern de3 Staates gemährleiften, fondern nur den Argmohn 
und die Zwietracht der Streng- und Enggläubigen mweden und den Streit 
entzünden. 
©o ergibt fi die Notwendigkeit, die Staatserziehungslehre als ein 
pädagogifches Prinzip anzufehen, das jede Erziehungslehre anerfennen und 
zur Geltung bringen muß, melde Einfluß auf die öffentliche Erziehung in 
der Schule und durch die Schule ausüben will. Sie befteht au einem Ge- 
füge von Grund: und Lehrfägen, die in der fatholifchen mie in der evange- 
Ifchen Schule und Erziehung in gleihem Maße wirken müffen; fie jind das 
Gemeinfame, das alle pädagogifchen Syfteme, die auf dem ©ebiete unfjers 
Reichs nach öffentlicher Geltung ringen, durchdringt und durchdringen muß. 
Das Leben der Menfchen vollzieht fich itet3 im Staate und zum Teil 
für den Staat. Jeder Mensch ijt eine Perfönlichkeit, die ihren Eigenmwert 
  
f 
!) Siehe meinen „Rampf um ben Religionsunterriht” ©. 30.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.