Das Wefen der Staatserziehung. 9
hat und durdy Erziehung ihn erhalten foll. Dies drüdt R. v. Jhering in
feinem „Bmwed im Recht” (I, 72) mit dem Worte aus: „Sch bin für mich da”,
d. h. jede Perfon it Selbjtamed. Niemals darf diefer Grundfag völlig auf-
gehoben werden; man kann ihn befcränfen und muß ihn befchränfen ?),
aber darf ihn nie gänzlich leugnen. In diefe Gefahr fam fon Fichte,
al3 er in feinem „Shftem der Sittenlehre” fchrieb: „Sch bin nur AInftrument,
bloßes Werkzeug des GSittengejeges, jchlehthin nicht Zmed. Man darf den
Leib nur ernähren und die Gefundheit degjelben nur befördern zu feinem
andern Zmede, ald um ein tüchtiges Werkzeug zur Beförderung de3 Ber-
nunftzredes zu jein.”
Die Perfonerziehung hat die Perfon als Selbitzimed zu merten und zu
behandeln. Aber fie ijt nicht die einzige und allein richtige Erziehung. Denn
die Person ift nicht bloß für fih und durd) fih da; fie ilt auch für die Welt,
für die andern da. Darum jtellt $hering an dem genannten Orte mit
Recht zwei Hauptgrundfäße auf, den Grundfa der Nechtzitellung und den
der Pflichtitellung.
Der Grundjag der Rechtsjtellung jagt: ‘ch bin für mid) da; die
Welt (al3 die Gefamthett der andern) ift für mich da. Der Grundfaß der
Pflihtftellung jagt: Sch bin für die Welt da; ich bin für did, für
die andern da. ener fagt, daß etwas für und da ijt; Ddiefer, daß mir für
ettvas, für andere da find.
Tehlte der Grundfag der Rectsitellung, dann wäre die Perfönlichleit —
wie beim Sklaven — ausgefchlojjen; fehlte der Grundfag der Pflichtftellung,
dann erhöbe man irgend eine Perfon auf den Thron der unbedingt alleinigen
Perfönlichfeit. So begrenzen beide Grundfäße einander. Die Redtsitellung
begründet das Prinzip der Perfönlichkeitserziehung, die Pflichtftellung das der
Gitten-, Gemein-, Gefellfehafts- und Staatserziehung.
Die Erziehung überhaupt hat alfo den Yögling zu erziehen
1. für fih, al3 Einzelperjönlichkeit,
2. für die andern, al3 Glied der ©ejellichaft und des Staates.
Die Perlönlichfeitserziehung will und foll dem Zögling Würde und Wert
an fi geben, die Gemeinerziehung foll und mill ihm einen Wert für die
andern, die Gejellihaft und den Staat verleihen. Beide müffen Hand in
Hand gehen. Wenn man fie aud) begrifflich fheiden Tann, tatfächlich bilden
jie ein untrennbares Ganzes, und nur ein jtaatserziehungsmiffenfchaftlich ge-
Ihultes oder bewaffnete Auge vermag in jeder Erziehungsform den ftaats-
erzieherifchen Einfchlag deutlich zu erkennen. |
Beide Erziehungsformen fönnen und follen fich verfchmelzen zu einer
lebensvollen Einheit, da ihre Zmede und Mittel oft, ja vorherrfchend zu-
fammenfallen. Die Zmede der PBerfon und der Sejellihaft und des Staates
fallen eben zumeift zufammen. „Die Berfnüpfung des eigenen
Bmwedes mit dem fremden Xntereffe”, das ift — um mit
$hering (I, 42) zu reden — die Form, die die Löfung der natürlichen
Gegenfäge zmwifchen Einzelmefen und Gefellichaft und Staat anbahnt und er-
mögliht. „Auf diefer Formel beruht unfer ganzes menfchliche® Xeben in
Staat, Sefellfhaft, Handel und Verkehr” (I, 42).
„Niemand ift für fich allein da, jo wenig wie durch fi) allein, fondern
!) Kant fagte: „Schränfe did) in deinem äußeren $reiheitägebraucdh foweit ein, baf
au) jeder andre neben Dir gleichjall® als ein feine vernünftigen Bmede fich felbft
jegendes Wefen zu leben vermöge.“