Die Lage zur See. 61
Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, mir zu helfen, dieses
größere deutsche Reich auch fest an unser beimisches zu gliedern.“
Diese „Angliederung“, von welcher der Kaiser spricht, war nur denk-
bar durch eine Weltpolitik, und eine solche nur möglich, wenn eine ge-
nügend starke Flotte zur Berfügung stand. Oas Kaiserliche Progranm
lag anderseits in der geraden Entwicklungslinie des ODeutschen Reiches.
Es mußte einmal aufgestellt und durchgeführt werden.
Bismarck hatte gesagt: „Bis zum Jahre 1866 trieben wir preußisch-
deutsche, bis 1870 deutsch-europäische Politik, seitdem Weltpolitik. —
Bei der Berechnung der zukünftigen Ereignisse müssen wir auch die Ber-
einigten Staaten ins Auge fassen, die sich zu einer jetzt von den meisten
noch ungeahnten Gefahr auf wirtschaftlichem Gebiete entwickeln werden.
Das eine wird sich in Zukunft vom anderen nicht trennen lassen. Der
Krieg der Zukunft ist der wirtschaftliche Krieg, der Kampf ums Dasein
im großen. Mögen meine Nachfolger dies immer im Auge behalten und
dafür sorgen, daß, wenn dieser Kampf kommt, wir gerüstet sind.“ Und
ein anderes Mal sagte der große Kanzler: „Die Pflege eines starken und
stolzen Nationalgefühles ist unsere heilige Pflicht, und zumal die Deut-
schen im Auslande können und sollen stets wissen, daß 50 Millionen Deutsche
bereitstehen, deutsche Ehre und deutsche Interessen zu vertreten.“ Und
wiederum sagte er im Jahre 1885, daß die Steigerung der Bewilligungen
für die Flotte aus einer sehr erfreulichen Ursache herrührte, „nämlich
weil der deutsche Handel in die Weite und Breite sich mehrt und also eines
größeren Schutzes bedarf. Daß wir so viel Schiffe in den asiatischen
Gewässern und so viele Interessen an der Ost- und Westküste von Afrika
zu schützen haben würden, haben wir früher nicht geglaubt. Aber nun
dieses erfreuliche Ergebnis, daß ein größerer Seehandel eines größeren
Schutzes durch die Flotte bedarf, nun wiederum auf das Konto unserer
neuesten Vorlage zu setzen, das ist doch auch nicht gerecht.“ —
Kaiser Wilhelm hat mit seinem Programm die Bismarcksche Politik
in zeitgemäßer Form und Art fortgesetzt. Daß jenes sein Bekenntnis am
18. Januar 1896 keine Augenblickseingebung war, sondern seit seiner
Thronbesteigung ihm fest vor Augen stand, ist längst eine allgemein an-
erkannte Wahrheit. Die Periode Caprivi war allerdings nicht geeignet ge-
wesen, die Verhältnisse den kaiserlichen Zielen näherzuführen.
Versuchen wir aber, uns diese Periode fortzudenken, so wäre doch
der Mangel einer deutschen Flotte auch politisch in vollem Umfange
negativ wirksam geblieben. Die Lücke konnte nur allmählich und nur
durch eigene Kraft überwunden werden. Die fremde Kraft der englischen
Flotte nach dem Ergänzungsprinzipe zu benutzen, war ein in der Wurzel
ungesunder Gedanke. Er erinnerte an jenen Zustand, als vor der Grün-