100 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1905.
und als ob nicht die deutsch-englischen Beziehungen von Bolk zu Volk
und amtlich von tiefem Mißtrauen erfüllt seien. #ene Tage sind lange
vorbei, und desto umumwundener kann man heute aussprechen, daß eine
„Weltpolitik des Kürassierstiefele“ damals weniger von Erfolg begleitet
gewesen sein würde denn je.
Fürst Hohenlohe hatte mit seinem Worte von der Weltpolitik und
dem Kraftüberschuß ebenso recht wie mit der Bemerkung, daß eine deutsche
Flotte das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands sei.
Was aber in allen diesen an sich richtigen Begründungen und Ausfüh-
rungen nicht genügend zum Ausdrucke kam, das war die bedenkliche Be-
deutung des nachgerade ungeheuerlich werdenden Mißverhältnisses zwi-
schen der Höhe dieser zu schützenden Werte und dem Mindestmaße des
Schutzes, der notwendig war. Man beurteilt die politischen Aufgaben
und damit die politischen Leistungen jener Zeit unrichtig, wenn man
dieses Moment nicht genügend bewertet. Eine Reihe von Jahren nach-
her wies Fürst Bülow andeutungsweise darauf hin, als er im Reichs-
tage sagte, die Schwierigkeiten für die deutsche Diplomatie und Politik
wären durch die Notwendigkeit, Weltpolitik zu treiben, gegen frühere
Zeiten erheblich gewachsen. Weltpolitik mußte aber getrieben werden,
weil die deutsche Wirtschaft sich immer mehr in die Weltwirtschaft ver-
flocht, auch die Kolonialpolitik das weltpolitische Element per se ein-
schloß. In diesem Mißverhältnisse zwischen Ziel und Mitteln beruhte,
zum Teil wenigstens, die Tragik verschiedener Mißerfolge der deutschen
Politik im Laufe des nächsten Jahrzehntes. Noch größer — und bisweilen
peinlich — trat das Mißverhältnis in Erscheinung, jedesmal, wenn Miß-
erfolgen Ankündigung und Erörterung großer Ziele vorausgegangen waren.
Unrichtig wäre, von einem damaligen Frontwechsel der Politik des
Deutschen Reiches zu sprechen. Es handelte sich nicht um einen Wechsel,
sondern um eine Bermehrung der Fronten, um eine große Vermehrung,
ferner der wirtschaftlichen und politischen Reibungsflächen, zeitlich wie
örtlich. In dieses weltumfassende, sausende Getriebe trat das Deutsche
Reich neu ein. Wohin es seine Pläne richtete, wo immer seine Kauf-
leute sich im privaten Wettbewerbe durchsetzten, da fand Oeutschland
die anderen Großmächte als Erstankömmlinge, die nicht gewillt waren,
ihren Besitz oder ihre Hoffnungen und Ansprüche aufzugeben. Hätte die
deutsche Kriegsflotte auch mur annähernd im Verhältnisse zu den deutschen
Seeinteressen zugenommen gehabt! — aber das Gegenteil war, wie wir
sehen, der Fall, und daraus ergab sich im Bereine mit der Notwendigkeit
politischer Neuorientierung der Reichspolitik und der deutschen Lage
zwischen Rußland, Frankreich und Großbritannien, die ganz einzigartige
und eigenartige ungünstige Lage des Deutschen Reiches. In ihr war,