Cherbourg — Kreta — Kiautschou — Angola. 103
sprach im Anschlusse an diesen Depeschenwechsel vom Vorhandensein
eines französisch-russischen Defensiv- und Offensiv-Bündnisses, das in
Kronstadt vom Präsidenten und vom Zaren unterzeichnet worden sei.
Auf besonderen Wunsch des Zaren sei dem Wortlaute des Bündnisver-
trages als einer der Zwecke des Bündnisses beigefügt worden: „Erhaltung
des allgemeinen Friedens.“ In Frankreich war der JZubel über diesen so
lange ersehnten und vorbereiteten Erfolg ungeheuer, zumal man sich
das — als vorhanden angenommene — offensive Moment im Vertrage
natürlich als Hauptsache und Hauptzweck des Bündnisses vorstellte. Gleich--
wohl trat eine Anzahl von Vorkommnissen ein, die geeignet waren, Wasser
in den französischen Wein zu tun.
Bevor 1896 der Zar nach Paris kam, traf er mit dem Deutschen Kaiser
in Breslau zusammen; die üblichen Trinksprüche wurden gewechselt, und
wenn diese auch nichts Besonderes besagten, so ließen sie wie der Besuch
doch keinerlei Zweifel darüber, daß der Zar ein gutes Verhältnis mit dem
Deutschen Reiche persönlich wünschte. Damals hatte er jene Unterhaltung
mit dem Reichskanzler Fürsten Hohenlohe, in der er dem Kanzler die
russische Freundschaft Deutschland gegenüber betonte, nachdem er im
Vorjahre Hohenlohe sein Einverständnis bestätigt hatte, daß Deutschland
sich an der ostasiatischen Küste festsetze. Durch diese Tatsachen gewinnt
jeine Breslauer Monarchenzusammenkunft viel größere Bedeutung, als
man ihr bisher gemeinhin beimaß. Diese Bedeutung hatte die Kehrseite,
daß der russischen Politik naturgemäß vicl daran lag: für ihre eignen
großen Ziele in Ostasien Deutschland durch solche Partnerschaft festzulegen,
und zwar gegen die mit Sicherheit zu erwartende großbritannische Gegner-
schaft.
Nach seinem Pariser Besuche kam der Zar wieder nach Deutschland,
hielt sich in Darmstadt auf, empfing dort einen privaten Besuch des Deut-
schen Kaisers von Wiesbaden aus und erwiderte ihn kurz darauf. Das
deutsch-russische Berhältnis wurde wieder zum Gegenstande eifriger Er-
örterungen in der Presse, und verschiedene Blätter äußerten die An-
sicht, daß die von Bismarck und seinen Organen ausgesprochene Be-
hauptung: der neue Kurs habe es mit Rußland verdorben, doch nicht
stimmen könne. Heute (18960) sei das deutsch-russische Berhältnis ein
sehr viel günstigeres als zu Zeiten des Fürsten Biomarck. Darauf erschien
in den „Hamburger Nachrichten“, in der Folge auch in anderen Blättern,
eine Reihe von Aufsätzen, die das frühere Bestehen des deutsch-russischen
Neutralitätsvertrages enthüllten, gleichzeitig erklärten, daß Graf Caprivi
aus eigener Initiative gegen den russischen Wunsch den Bertrag nicht
erneuert habe. Diese Enthüllungen erregten naturgemäß in der poli-
tischen Welt des Fnlandes wie des Auslandes ein ungeheures Aufsehen.