Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Cherbourg — Kreta — Kiautschou — Angola. 103 
  
sprach im Anschlusse an diesen Depeschenwechsel vom Vorhandensein 
eines französisch-russischen Defensiv- und Offensiv-Bündnisses, das in 
Kronstadt vom Präsidenten und vom Zaren unterzeichnet worden sei. 
Auf besonderen Wunsch des Zaren sei dem Wortlaute des Bündnisver- 
trages als einer der Zwecke des Bündnisses beigefügt worden: „Erhaltung 
des allgemeinen Friedens.“ In Frankreich war der JZubel über diesen so 
lange ersehnten und vorbereiteten Erfolg ungeheuer, zumal man sich 
das — als vorhanden angenommene — offensive Moment im Vertrage 
natürlich als Hauptsache und Hauptzweck des Bündnisses vorstellte. Gleich-- 
wohl trat eine Anzahl von Vorkommnissen ein, die geeignet waren, Wasser 
in den französischen Wein zu tun. 
Bevor 1896 der Zar nach Paris kam, traf er mit dem Deutschen Kaiser 
in Breslau zusammen; die üblichen Trinksprüche wurden gewechselt, und 
wenn diese auch nichts Besonderes besagten, so ließen sie wie der Besuch 
doch keinerlei Zweifel darüber, daß der Zar ein gutes Verhältnis mit dem 
Deutschen Reiche persönlich wünschte. Damals hatte er jene Unterhaltung 
mit dem Reichskanzler Fürsten Hohenlohe, in der er dem Kanzler die 
russische Freundschaft Deutschland gegenüber betonte, nachdem er im 
Vorjahre Hohenlohe sein Einverständnis bestätigt hatte, daß Deutschland 
sich an der ostasiatischen Küste festsetze. Durch diese Tatsachen gewinnt 
jeine Breslauer Monarchenzusammenkunft viel größere Bedeutung, als 
man ihr bisher gemeinhin beimaß. Diese Bedeutung hatte die Kehrseite, 
daß der russischen Politik naturgemäß vicl daran lag: für ihre eignen 
großen Ziele in Ostasien Deutschland durch solche Partnerschaft festzulegen, 
und zwar gegen die mit Sicherheit zu erwartende großbritannische Gegner- 
schaft. 
Nach seinem Pariser Besuche kam der Zar wieder nach Deutschland, 
hielt sich in Darmstadt auf, empfing dort einen privaten Besuch des Deut- 
schen Kaisers von Wiesbaden aus und erwiderte ihn kurz darauf. Das 
deutsch-russische Berhältnis wurde wieder zum Gegenstande eifriger Er- 
örterungen in der Presse, und verschiedene Blätter äußerten die An- 
sicht, daß die von Bismarck und seinen Organen ausgesprochene Be- 
hauptung: der neue Kurs habe es mit Rußland verdorben, doch nicht 
stimmen könne. Heute (18960) sei das deutsch-russische Berhältnis ein 
sehr viel günstigeres als zu Zeiten des Fürsten Biomarck. Darauf erschien 
in den „Hamburger Nachrichten“, in der Folge auch in anderen Blättern, 
eine Reihe von Aufsätzen, die das frühere Bestehen des deutsch-russischen 
Neutralitätsvertrages enthüllten, gleichzeitig erklärten, daß Graf Caprivi 
aus eigener Initiative gegen den russischen Wunsch den Bertrag nicht 
erneuert habe. Diese Enthüllungen erregten naturgemäß in der poli- 
tischen Welt des Fnlandes wie des Auslandes ein ungeheures Aufsehen.
	        
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