104 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1903.
Wir geben hier auf die Meinungsstreitigkeiten, die sich in Deutschland
darüber entwickelten, nicht ein, und hinsichtlich des Vertrages selbst sei
auf den 1. Abschnitt verwiesen. Wir fragen hier nur: welchen Zweck die
Veröffentlichungen des Fürsten Biemarck hatten und welchen sie er-
reichten. Daß die Enthüllungen im deutschen Sinne geschadet hätten,
kann schwerlich behauptet werden, denn der verantwortliche Träger der
derzeitigen Politik, Graf Caprivi, war nicht mehr im Amte, und die Politik
des Deutschen Reiches hatte die von Caprivi beschrittenen Wege: be-
dingungslosen Anschluß an England, Zurückhaltung und Mißtrauen gegen
Rußland! — bewußt verlassen. Wohl aber, und das bildete auch ihren
Hauptzweck, war die Enthüllung geeignet, den Franzosen einen schla-
genden Beweis für die Beweggründe zu geben, welche Rußland in ihre
Arme getrieben hatten. Bis dahin war man in Frankreich überzeugt
gewesen, daß diese russischen Beweggründe vor allem in der Furcht vor
Deutschlands Machtstellung, in den Zielen der russischen Orient- und
Balkanpolitik und in dem Hasse des Slawentumes gegen das Germanen-
tum, schließlich auch auf dem Wunsche beruhten, gegen den deutsch-öster-
reichischen Zweibund ein Gegengewicht zu schaffen, dessen Zweck nicht
lediglich Berteidigung gegen Angriffe, sondern „Wiederherstellung des
gestörten europäischen Gleichgewichtes“ bildeten. Daraus erklärte sich
auch jene kampflustige Zuversicht Frankreichs, die man seit Beginn der
neunziger Jahre in steigendem Maße beobachten konnte.
Die Biemarckschen Enthüllungen nun belehrten nicht nur Frank-
reich, sondern die ganze Welt eines Besseren. Sie lieferten den unwider-
leglichen Beweis, daß Rußland nicht aus Haß gegen Oeutschland und
mit dem Hintergedanken eines Krieges sich mit dem revanchelustigen
Frankreich verbunden hatte, sondern weil es durch das Berfallenlassen
des deutsch-russischen Neutralitätsvertrages isoliert worden war, haupt-
sächlich England gegenüber, in zweiter Linie Österreich-Ungarn gegen-
über, alles in allem, weil es für Rußland und seine Politik eine Lebensnot-
wendigkeit bedeutete, festen Anschluß an eine europäische Großmacht zu
gewinnen.
Was den ZInhalt des französisch-russischen Bündnisvertrages anlangt,
so wird er bis heute geheim gehalten. Wie im 1. Abschnitt auseinander-
gesetzt worden ist und wie der Krieg 1914/15 bewiesen hat, steht fest, daß
für das Eintreten des Bündniefalles ein erheblich größerer Spielraum
gelassen worden war als im deutsch-österreichischen Bündnisse. Begriffe
wie: Erhaltung und Herstellung des Friedens, Erhaltung und Herstellung
des Eleichgewichtes waren sogenannte Kautschukbegriffe. In Wirklichkeit
hat es sich immer um ein Schutz- und Trutzbündnis zwischen den beiden
Mächten gehandelt.