106 2. Abschnitt. Weltvolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1395—1903.
Es wollte im nahen Osten Ruhe haben, und die russischen Staatsmänner
durchschauten leicht auch das zweite Ziel der britischen Politik: die Kräfte
Rußlands gerade jetzt im nahen Osten zu binden und damit dem fernen
Osten zu entziehen. Österreich-Ungarn mußte aus naheliegenden Gründen
die Erhaltung des Status quo der Türkei wünschen, und deshalb konnten
Kaiser Franz Joseph und der Zar mit ihren Ministern leicht zu einer Ver-
tändigung gelangen. Im Jahre 1897 war Kaiser Franz Foseph in Peters-
burg. In ihren Trinksprüchen erklärten die Monarchen ihr gegenseitiges
Einverständnis und ihre Solidarität. Das Oeutsche Reich war früher nur
indirekt beteiligt gewesen, hatte zum mindesten kein Interesse an Bedro-
hung oder Berkleinerung der Türkei gehabt. Dazu war aber seit dem Be-
ginn der neunziger JLahre die neue deutsche Orientpolitik gekommen.
Sie zielte auf eine lebhafte deutsche Wirtschaftsbetätigung im Türkischen
Reiche hin und mußte schon deshalb wünschen, daß seine territoriale
Zntegrität ebensowenig wie die Ruhe und die Bewegungzfreiheit ge-
stört würde. Deutschland stand somit im Lager der Festlandmächte.
Man konnte damals (18960) also wohl von einer Zsolierung Großbritanniens
in der orientalischen Frage reden. Salisbury soll damals dem Deutschen
Kaiser die Aufteilung des Türkischen Reiches angeboten haben. Das An-
gebot, dessen Hauptzweck wohl war, Deutschland mit Rußland zu ver-
feinden, wurde abgelehnt.
Aun brachte das Zahr 1897 die griechisch-türkischen Unruhen. Griechen-
land befand sich geldlich in schlimmer Lage, hatte im Jahre vorher wieder
seine Zinszahlungen herabgesetzt und damit u. a. auch die deutschen Obli-
gationsinhaber schwer geschädigt. Die deutsche Regierung brachte bei
den Mächten die Errichtung einer internationalen Kommission zur Aber-
wachung des griechischen Geldwesens und der Zinszahlungen in An-
regung. Hier widersetzte sich die britische Regierung, während die anderen
zustimmten. Schließlich wurde ein Mittelweg beschritten.
War also die Stimmung in Deutschland Griechenland gegenüber
schon wegen seiner unzuverlässigen Finanzgebarung nicht gerade günstig,
so stieg die Mißstimmung durch die kretensische Aktion Griechenlands.
Die deutsche Regierung erklärte es unter der Würde, nach dem völker-
rechtswidrigen Berhalten Griechenlands noch diplomatische Schritte in
Athen zu tun. Der Kreuzer „Kaiserin Augusta“, der mit Kriegsschiffen
anderer Nationen vor Kreta lag, erhielt den Befehl: „im Einvernehmen
mit den Schiffen anderer Mächte jeden feindseligen Akt Griechenlands
zu verhindern, außerdem zur Wiederherstellung der Ordnung und zur
Vermeidung weiteren Blutvergießens tunlichst mitzuwirken“. Baron
v. Marschall führte im Reichstage an, das Deutsche Reich habe keine
Sonderinteressen im Orient, es wünsche nur Erhaltung des europäischen