150 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1903.
politik seines Vorgängers Hanotaux fortzusetzen. In Großbritannien ver-
zeichnete man diese Wendung mit Befriedigung. Die britische Supre-
matie war wieder einmal stabiliert worden. Beinahe widerspruchslos
hatte sich ihr die zweitgrößte Seemacht der Erde, die empfindlichste Nation
der Welt, gefügt. Und diese Nation dachte, nachdem sie den Schlag er-
halten und sich unterworfen hatte, nicht an eine Politik der Rache, son-
dern ihre Leiter schlugen die entgegengesetzte Politik ein: anstatt gegen
England — mit England zu geben. In jener Zeit der letzten Dreyfus-
krisiö scheint DelcassK eine ganz außerordentliche, für französische Ber-
hältnisse ungewöhnliche Selbständigkeit in der Leitung der auswärtigen
Angelegenheiten innegehabt zu haben. Während des letzten Teiles der
Amtszeit seines Vorgängers, auch noch in den ersten Jahren eigener
Amtsführüung kam es nicht selten in Frankreich zu — wennschon zurück-
haltenden — Sympathiekundgebungen Oeutschland gegenüber. Ernst-
hafte Politiker sprachen, ohne einen Sturm damit zu erregen — freilich
auch ohne tieferen Anklang zu finden — von einer französisch-deutschen An-
näherung. Oelcassé orientierte die französische Politik nach der Gegen-
seite. Er nahm den alten Gedanken wieder auf, den französische Staats-
männer in den achtziger Jahren vergeblich zu verwirklichen gesucht hatten:
Frankreich und Großbritannien in die gleiche Front zu bringen und diese
Front gegen Deutschland zu richten. Man würde vielleicht zu weit gehen
mit der Behauptung, daß er diesen Gedanken zusammen mit seinem
späteren Marokkoprogramm damals ungefähr fertig im Kopfe gehabt
habe. Das ist sicherlich nicht der Fall gewesen. Fest stehen dagegen zwei
Tatsachen: die eine, daß er von Anfang an die Annäherung an England
wollte; die zweite, daß er zu den damals in Frankreich unter den maß-
gebenden Franzosen nicht zahlreichen Trägern des Revanchegedankens
gehörte. Diese beiden Ziele ergaben an und für sich schon das politische
Programm des Ministers. Ohne Frage hat er die Ursachen und Sym-
ptome beginnender Entfremdung zwischen Großbritannien und dem Deut-
schen Reiche mit Sorgfalt beobachtet und gleichermaßen die vergeblichen
Versuche Großbritanniens, mit Deutschland in enge Beziehungen zu ge-
langen. Delcassé konnte an dem ganzen bisherigen Gange der deutschen
Politik und von Jahr zu Jahr deutlicher erkennen, daß Deutschland, durch
vormalige Spuren geschreckt, nicht beabsichtigte, dem englischen Werben
nachzugeben. Oie deutsche Politik war unter Bülow von Anfang an auf
möglichsten Anschluß an die Festlandmächte, auf freie Hand Großbri-
tannien gegenüber eingestellt worden. Unbestreitbar war auf der anderen
Seite das britische Bedürfnis, mit einer der europäischen Festlandmächte
in engem Einverständnisse zu leben. Chamberlain, Salisbury und andere
hielten nach wie vor Deutschland für die einzige Macht, die dafür in Be-