Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

150 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1903. 
  
politik seines Vorgängers Hanotaux fortzusetzen. In Großbritannien ver- 
zeichnete man diese Wendung mit Befriedigung. Die britische Supre- 
matie war wieder einmal stabiliert worden. Beinahe widerspruchslos 
hatte sich ihr die zweitgrößte Seemacht der Erde, die empfindlichste Nation 
der Welt, gefügt. Und diese Nation dachte, nachdem sie den Schlag er- 
halten und sich unterworfen hatte, nicht an eine Politik der Rache, son- 
dern ihre Leiter schlugen die entgegengesetzte Politik ein: anstatt gegen 
England — mit England zu geben. In jener Zeit der letzten Dreyfus- 
krisiö scheint DelcassK eine ganz außerordentliche, für französische Ber- 
hältnisse ungewöhnliche Selbständigkeit in der Leitung der auswärtigen 
Angelegenheiten innegehabt zu haben. Während des letzten Teiles der 
Amtszeit seines Vorgängers, auch noch in den ersten Jahren eigener 
Amtsführüung kam es nicht selten in Frankreich zu — wennschon zurück- 
haltenden — Sympathiekundgebungen Oeutschland gegenüber. Ernst- 
hafte Politiker sprachen, ohne einen Sturm damit zu erregen — freilich 
auch ohne tieferen Anklang zu finden — von einer französisch-deutschen An- 
näherung. Oelcassé orientierte die französische Politik nach der Gegen- 
seite. Er nahm den alten Gedanken wieder auf, den französische Staats- 
männer in den achtziger Jahren vergeblich zu verwirklichen gesucht hatten: 
Frankreich und Großbritannien in die gleiche Front zu bringen und diese 
Front gegen Deutschland zu richten. Man würde vielleicht zu weit gehen 
mit der Behauptung, daß er diesen Gedanken zusammen mit seinem 
späteren Marokkoprogramm damals ungefähr fertig im Kopfe gehabt 
habe. Das ist sicherlich nicht der Fall gewesen. Fest stehen dagegen zwei 
Tatsachen: die eine, daß er von Anfang an die Annäherung an England 
wollte; die zweite, daß er zu den damals in Frankreich unter den maß- 
gebenden Franzosen nicht zahlreichen Trägern des Revanchegedankens 
gehörte. Diese beiden Ziele ergaben an und für sich schon das politische 
Programm des Ministers. Ohne Frage hat er die Ursachen und Sym- 
ptome beginnender Entfremdung zwischen Großbritannien und dem Deut- 
schen Reiche mit Sorgfalt beobachtet und gleichermaßen die vergeblichen 
Versuche Großbritanniens, mit Deutschland in enge Beziehungen zu ge- 
langen. Delcassé konnte an dem ganzen bisherigen Gange der deutschen 
Politik und von Jahr zu Jahr deutlicher erkennen, daß Deutschland, durch 
vormalige Spuren geschreckt, nicht beabsichtigte, dem englischen Werben 
nachzugeben. Oie deutsche Politik war unter Bülow von Anfang an auf 
möglichsten Anschluß an die Festlandmächte, auf freie Hand Großbri- 
tannien gegenüber eingestellt worden. Unbestreitbar war auf der anderen 
Seite das britische Bedürfnis, mit einer der europäischen Festlandmächte 
in engem Einverständnisse zu leben. Chamberlain, Salisbury und andere 
hielten nach wie vor Deutschland für die einzige Macht, die dafür in Be-
	        
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