Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Oer Schritt zur deutschen Hochseeflotte. 161 
  
dieselbe Beziehung lag vor, als der Staatssekretär Graf Bülow sagte: es 
sei mit der Möglichkeit zu rechnen, daß man versuchen könnte, uns Be- 
leidigungen zuzufügen, die das deutsche Bolk nicht akzeptieren könne. — 
Auch das konnte sich nach Lage der Oinge auf keine andere Macht, son- 
dern nur auf Großbritannien beziehen. 
Beides war richtig, beides brachte zwei Kernpunkte der deutschen 
Flottennotwendigkeit zum Ausdruck. DOiese Gesichtspunkte waren da- 
mals auch, jedenfalls in ihrer oberflächlicheren Bedeutung, zum Gemein- 
gute der öffentlichen Meinung in Oeutschland geworden. Was aber 
für die Handhabung der auswärtigen Politik die Durchführung des Ent- 
schlusses bedeuten würde, einen ganz neuen, sehr starken maritimen Macht- 
faktor zwischen die anderen Mächte zu stellen, darüber waren sich wohl 
nur wenige Menschen in Oeutschland klar. Oie anderen europäischen 
Mächte hatten stets Flotten gehabt, bald stark, bald minder stark, aber 
immer beachtenswert. Eine nennenswerte deutsche Flotte war nicht 
vorhanden gewesen, mit einem maritimen Machtfaktor in der Nordsee 
und Ostsee hatte keine Macht vorher zu rechnen gebraucht. Aun sollte 
ein Faktor bier geschaffen werden, und zwar in Gestalt einer Flotte, 
welche als Schutzflotte imstande wäre, ihre Aufgabe zu erfüllen. Eine 
solche kriegsbereite Macht übt schon durch ihr Vorhandensein in Friedens- 
zeiten unausgesetzt ihren Einfluß. Die anderen Seemächte müssen im 
Sinne des Wortes mit diesem neuen Faktor rechnen, denn er ist immer 
da, er läßt sich nicht eliminieren, auch nicht placieren, wo es bequem wäre. 
Er bildet vielmehr das Werkzeug einer selbstwollenden anderen Macht 
und von Interessen und von Zielen, die manchmal gleichlaufend, oft aber 
denen anderer Mächte entgegengesetzt sind. Von jeher haben sich die 
Nationen und Mächte nur höchst unwillig mit neuen Machtfaktoren ab- 
gefunden und meist versucht, sie zu ersticken, ehe sie zu groß geworden 
waren, mochte es nun auf dem Lande oder auf dem Wasser sein. 
Man möchte annehmen, daß den leitenden Männern in Deutschland 
damals ähnliche Erwägungen nicht ferngelegen haben, gerade weil sie 
wußten, weil ihnen die Stärke ihres Willens, ihrer Kenntnis der Ver- 
hältnisse und Menschen die Sicherheit gab, daß das große Programm 
durchgeführt werden würde; was viele andere nicht glaubten. Diese 
leitenden Männer aber mögen sich auch gesagt haben, daß man während 
der langen Kindheitsojahre der neuen Flotte nach Möglichkeit alles tun müsse, 
um ernstere Reibungen mit dem gefährlichsten Gegner eben dieser Flotte 
zu vermeiden. Es bedarf nicht des besonderen Hinweises, daß ein der- 
artiges Bermeiden nicht als um jeden Preis empfehlenswert gemeint sein 
konnte. Wohl aber lag auf der Hand, daß es die Sache einer klugen Politik 
war, keine Lagen eintreten zu lassen, in denen man sich sagen mußte: 
Graf NReventlow, HOeutschlande auswärtige Dolitik. 11
	        
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