Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

174 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende NMittel. 1895—1905. 
  
und ungerechten Urteile erregte ungeheure Entrüstung in ganz Deutsch- 
land. Uberall im Reiche wurden Protestversammlungen abgehalten, die 
Zeitungen waren voll von Protesten, kurz, die Stimmung, welche das 
deutsche Bolk erfüllte, war so tief, bitter und allgemein, wie nie zuvor, 
noch hernach. Sie wandte sich in erster Linie gegen den Minister Cham- 
berlain als den Beschimpfer des deutschen Heeres, als den Unterdrücker 
der Buren und — freilich unausgesprochen, aber um so tiefer empfun- 
den — den Träger einer Politik, die den Hoffnungen und Träumen eines 
großen Teiles der deutschen Bevölkerung ein Ende gemacht hatte. Fener 
beispiellose Ausbruch aber hatte doch tiefere Ursachen als lediglich die Er- 
bitterung gegen den einen Mann. In ihr floß jetzt mit einem Male alles 
über, was sich im Laufe des letzten JZahrzehntes an nationaler Berletztbeit, 
an Gefühlen des Ubervorteiltseins, an Erinnerungen wirklicher oder ver- 
meintlicher politischer Mißerfolge angehäuft hatte. Oie gewohnheits- 
mäßig bevormundende, — bald gönnerhaft, bald tadelnd den Deutschen 
gegenüber — in der englischen Presse beliebte Sprache, die Selbstver- 
ständlichkeit, mit welcher die öffentliche Meinung Großbritannienes das 
Deutsche Reich und Volk als dem englischen untergeordnet und im Ver- 
gleiche zu ihm als minderwertig ansah, waren immer empfunden und nie 
vergessen worden. Zu all dem kam das Gefühl der Ohnmacht. Die um- 
fangreiche Literatur jener Jahre zeigt, man möchte beinahe sagen auf 
jeder Seite den Gedanken und die Hoffnung, eines Tages „mit England 
abzurechnen“. 
Es konnte nicht fehlen, daß diese Dinge in England einen starken 
Eindruck machten. Abgesehen von einigen Führern der parlamenta- 
rischen Opposition, die Chamberlain beftige Vorwürfe machten, ohne 
Not „ein großes befreundetes Volk“ beleidigt zu haben, betrachtete das 
englische Bolk die deutschen Kundgebungen vorwiegend mit miß- 
fälligeem, verächtlichem Erstaunen; man begann einzusehen, daß auf den 
vorhandenen Grundlagen eine englisch-deutsche Freundschaft derart, wie 
England sie wünschte, nicht möglich sei. Damals mag den führenden 
politischen Geistern Großbritanniens die Einsicht gekommen sein, daß 
England sein Bedürfnis nach festländischem Anschlusse beim Deutschen 
Reiche nicht befriedigen könne. Verständnis für die Wurzeln deutscher 
Stimmung bestand im englischen Volke nicht, wohl aber das schon tief 
gewurzelte Gefühl der Erbitterung und Eifersucht auf Deutschland als 
wirtschaftlichen Nebenbuhler. 
Für die Leiter der Politik des Deutschen Reiches mußte die deutsche 
Volksstimmung mit ihren Außerungen sehr unbequem sein, denn man 
hatte keinerlei Znteresse, Großbritannien politisch Deutschland zu ent- 
fremden, soweit es nicht durch zwingende Interessen des Deutschen Reiches
	        
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