Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Zur Einführung. XXI 
  
„Oie eigentlichen Ursprünge jenes Balkankrieges sind mir einiger- 
maßen vollständig und zuverlässig erst 1914 bekannt geworden. Sie zeigten 
ein Bild, welches gänzlich verschieden war von demjenigen, welches v. Ki- 
derlen-Waechter sich und anderen gemacht hat. Die damalige Einigkeit 
der Großmächte war von seiten der Tripelentente ein Manöver, um die 
Mittelmächte zu täuschen. Rußland im Einverständnis mit Großbritannien 
hatte von langer Hand den Balkanbund organisiert, und zwar in größter 
Heimlichkeit den Mittelmächten gegenüber. Der Zweck war, die Türkei 
in Europa zu zerschlagen, Osterreich-Ungarn eine neue schlimme Front 
zu schaffen, die deutsche Orientpolitik zu zertrummern und den Rest 
der Türkei zum willenlosen, von nirgendeher unterstützten Objekt 
der Tripelentente zu machen, schließlich dem Deutschen Reiche einen 
schweren Abbruch an Macht und Prestige zu bereiten und zugleich Italien 
an die Entente zu schmieden. v. Kiderlen-Waechter ging unmittelbar vor 
dem Kriege und noch in seinen Anfängen, als er den berühmten Status 
quo proklamierte, von ganz anderen als den wirklich gegebenen Voraus- 
setzungen aus. Er war über alle diese Dinge nicht unterrichtet. Er bielt 
einen kleinen amüsanten Balkankrieg für möglich und dann den Sieg der 
Türkei für sicher, aber diesen so organisierten Balkankrieg, wie er tat- 
sächlich war, hat er nicht geahnt und sich, wie seine Außerungen vorher 
und seine Politik nachber zeigte, auf einen solchen weder vorbereitet noch 
irgendwie damit gerechnet. Oie militärische Lage ebenso wie die poli- 
tische und diplomatische hatte ihn unvorbereitet gefunden und überrascht. 
„Aus diesen Gründen ist mir der Inhalt jener Gespräche mit v. Kider-- 
len-Wcaechter, den ich in der ersten Auflage stizzierte, nachher als unerheb- 
lich erschienen; denn angesichts der mir inzwischen bekannt gewordenen 
tatsächlichen Lage und Entwicklung hatten die Kiderlenschen Bemerkungen 
ihre Bedeutung verloren. Sie fußten auf einer Lage, die in Wirklichkeit 
gar nicht bestanden hat. Hätte ich sie wieder angeführt, so würde nötig 
gewesen sein, auseinanderzusetzen, daß der Staatssekretär sich in schwerem 
Zrrtume befand. Oiese Tatsache glaubte ich kürzer und sachlicher in der 
Weise zu charakterisieren, wie ich es nachher getan habe. Die von Valentin 
angedeutete Absicht: ich hätte durch die Weglassung des Gesprächs eine 
Herabsetzung v. Kiderlen-Waechters beabsichtigt, unterstellt mir nicht nur 
gemeine, sondern auch ganz kindische Absichten. Ich glaube, das gebt aus 
dieser meiner Darstellung ohne weiteres hervor. Ich darf schließlich noch 
besonders auf den Satz in der ersten und zweiten Auflage binweisen: 
„Der Staatssekretär wies aber besonders auf die mögliche Gefahr der 
Balkankrisen hin.“ Eine Krisis ist nicht ohne weiteres ein Krieg und, 
wie gesagt, meinte v. Kiderlen-Waechter auch in diesem Falle nicht mit 
„Balkankrisen“ den Balkankrieg als solchen.“
	        
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