Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

194 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908. 
  
Kreise hinauf wurde sie mit weitgesteckten transadriatischen Zielen 
IStaliens in Berbindung gebracht. 
Eine starke Triebfeder für die Wünsche nach einer solchen Politik 
bildete die große Menge von Albanern auf italienischem Boden. Diese 
umfassen heute ungefähr 220 000 Seelen, sind schon lange in Italien an- 
sässig und haben sich zum Teil mit der italienischen Bevölkerung ver- 
mischt. Hervorragende Italiener stammen ganz oder teilweise aus alba- 
nischem Blute; auch Italiens großem Staatsmanne Crispi wurde — mit 
Recht oder mit Unrecht — albanische Abkunft nachgesagt. Wenn nun 
auch, wie an anderer Stelle ausgeführt worden ist, Crispi keinen Wert 
auf Albanien gelegt hat, so ist doch die Tatsache unumstößlich und von 
erheblicher Bedeutung, daß eben jener albanische Einschlag der italie- 
nischen Bevölkerung in hohem Maße dazu beigetragen hat, daß sich das 
Interesse Italiens immer mehr auf Albanien lenkte. 
Angesichts dieses Standes der Dinge erkannte Delcassé leicht, wo der 
Hebel anzusetzen sei. Die französische Regierung hatte 1899 #Stalien die 
erwähnten Zusicherungen für die politische Zukunft von Tripolis ge- 
geben. Oie italienischen Wünsche waren nirgends ein Geheimnis. 1902 
wurde dieses Abkommen erweitert. Frankreich vergab damit etwas, was 
ihm nicht gehörte und auch nicht eigentlich in seinem Machtbereiche lag. 
Insofern erschien damals das Dezinteressement Frankreichs billig. An- 
derseits war aber die französische Regierung wie später weit davon ent- 
fernt, ein italienisches Tripolis für wünschenswert zu halten. Tripolis 
grenzt an das französische Tunis, und dieses war schon damals mit ISta- 
lienern angefüllt gegenüber einem verschwindenden Bruchteil von Fran- 
zosen. Eine italienische Nachbarkolonie mußte also für das französische 
Tunis eo ipso eine Gefahr bedeuten. So galt es, Italien von Tripolis 
abzulenken, immer unter der Versicherung, daß Frankreich sich freuen 
werde, wenn die italienische Flagge über Tripolis wehen würde. Mit 
großer Geschicklichkeit haben es damals Delcassé und Barrere verstanden, 
die „legitimen Aspirationen“ Italiens in Albanien und die irredentistischen 
Leidenschaften gegen Österreich zu entflammen, um so die Zusammen- 
hänge des Dreibundes zu erschüttern. Die französische Presse jener Zeit 
war voll von Lobpreisungen und eingehenden Beschreibungen der zidvili- 
satorischen Arbeit Ztaliens nicht nur in Albanien, sondern auch in Maze- 
donien. Die Ztaliener albanischen Blutes stellten offen das Programm 
auf: Albanien müsse durch ZItalien zivilisiert und befreit und dann als 
selbständige italienische Provinz organisiert werden. Der alte italienisch- 
österreichische Gegensatz verschaffte diesem Programme wachsende Volks- 
tümlichkeit. 
Um 1902 sollte, wie man wußte, der Oreibund erneuert werden,
	        
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