Tanger. 265
tive Recht der diplomatischen Auslegung kann man sogar unbegrenzt
nennen.
Der Sultan von Marokko ließ eben vor dem Rücktritte Delcassés
die französische Regierung wissen, daß er die Reformvorschläge Frank-
reichs nicht annehmen könne, und forderte — auf deutsche Anregung —
die Signatarmächte der Madrider Konvention zur Beschickung einer
Konferenz auf. Zu dieser Zeit befand sich der deutsche Reichskanzler
bereits in direktem Meinungsaustausche mit Mr. Rouvier. Oie deutsche
Regierung nahm den Konferenzvorschlag des Sultans sofort amtlich auf,
und in einem Rundschreiben legte Fürst Bülow dar, daß die in Marokko
nötigen Reformen nur unter Anlehnung an die Madrider Signatarmächte
erfolgen könnten. Deshalb müsse der Meistbegünstigungoartikel 17 dieser
Konvention maßgebend bleiben: daß also keine Macht als bevorzugt in
Marokko behandelt werden dürfe. Sollte die Konferenz an der Wei-
gerung einzelner Signatarmächte scheitern, so würde der bisherige Ver-
tragezustand unverändert aufrecht bleiben. Ein Gewährenlassen der
französischen Aktion in Marokko bedeute für die Signatarmächte das
Preisgeben ihrer Rechte aus dem Madrider Vertrage, ein Einspruch gegen
diese Aktion bedeute eine Verteidigung des bestehenden Rechtszustandes.
Anfang Zuli erfolgte ein Erklärungsaustausch zwischen Rouvier und
dem deutschen Botschafter über die zu beschickende Konferenz, welcher
von französischer Seite folgendermaßen lautet:
„Die Regierung der Republik ist durch die Besprechungen, die zwi-
schen den Bertretern der beiden Länder in Paris wie in Berlin stattge-
funden haben, zu der Uberzeugung gelangt, daß die Kaiserliche Regie-
rung auf der von dem Sultan von NMarokko vorgeschlagenen Konferenz
keine Ziele verfolgen wird, die die berechtigten Interessen Frankreichs
in diesem Lande in Frage stellen oder im Widerspruche stehen mit den
Rechten Frankreichs, die sich aus seinen Verträgen oder Abkommen er-
geben und sich im Einklange mit folgenden Grundsätzen befinden: Sou-
veränität und Unabhängigkeit des Sultans, Integrität seines Reiches,
wirtschaftliche Freiheit ohne jede Ungleichheit, Nützlichkeit polizeilicher
und finanzieller Reformen, deren Einführung für kurze Zeit auf Grund
internationaler Bereinbarung geregelt werden soll; ferner: Anerkennung
der Lage, die für Frankreich in Marokko geschaffen wird durch lang aus-
gedehnte Grenzberührung zwischen Algerien und dem Scherifischen Reiche,
durch die sich hieraus für die beiden Nachbarländer ergebenden eigen-
artigen Beziehungen, sowie durch das hieraus für Frankreich folgende
besondere Znteresse daran, daß im Scherifischen Reiche Ordnung herrsche.
— Infolgedessen läßt die französische Regierung ihre ursprünglichen
Einwendungen gegen die Konferenz fallen und nimmt die Einladung an.“