272 3. Abschnitt. Bor und nach Algeciras. 1903—1908.
und mußte es damals für den Fürsten Bülow sein. Die Frage aber bleibt,
ob bei einer deutsch-französischen Sonderverständigung deutscherseite nicht
so viel hätte erreicht werden können, daß eine nachteilige Wirkung auf
die Stimmung des Islams, insbesondere auf die Türkei, vermieden wurde.
Wählte Bülow trotzdem die Konferenz, so mußte er sicher sein und den
begründeten Willen haben, ein derartiges Ergebnis auch der Konferenz
durchzusetzen, daß keine schädliche Wirkung auf die Stimmung in der Türkei
Deutschland gegenüber eintrat. Dieses ist nicht erreicht worden, und so
bleibt auch heute für den rückschauenden Beurteiler die Frage bestehen,
ob es nicht richtiger gewesen wäre, auf einer Sonderverständigung mit
Frankreich zu beharren oder im Falle ihrer Undurchführbarkeit Krieg gegen
Frankreich zu führen. Man hätte diesen Krieg dann nicht „uim Marokkos
willen“ geführt, sondern um einer antideutschen Koalitionsbildung in
Europa vorzubeugen und den Krieg unter beispiellos günstigen Umständen
auf dem Festlande zur Entscheidung zu bringen. Die Zerstörung deutscher
Werte auf der See und über der See hätte man ebenso verschmerzen müs-
sen, wie es in und nach dem Kriege von 1914/16 geschehen muß, und zwar
unter Festlandverhältnissen, welche für Deutschland viel ungünstiger waren
als zehn Zahre früher. Das einzige Moment, welches gegen einen Krieg
damals angeführt werden konnte, war das Nichtvorhandensein unbedingter
Notwendigkeit für Deutschland, ihn zu führen. Bielleicht haben die Leiter
des Deutschen Reiches unter anderem gedacht, daß ein solcher Krieg das
deutsche Volk nicht ganz geeint finden würde. Solche Bedenklichkeiten
hätten sich wohl überwinden lassen. In erster Linie hat aber wohl die
unbedingte Friedensliebe der deutschen Politik gestanden. Es ist bemer-
kenswert — ein recht nachdenkliches Kapitel —, daß eine so beispiellos
günstige europäische Situation damals von Oeutschland nicht ausgenutzt
wurde, um einen Krieg zu führen, der die deutsche Stellung in Europa
unter verhältnismäßig geringen Opfern für sehr lange Zeit von allen
Festlanddrohungen befreit haben würde.
Im Sommer und Herbst 1905 trat die feste Geschlossenheit des eng-
lisch-französischen Berhältnisses und die erbitterte Entschlossenheit des
englischen Hasses gegen Deutschland steigend hervor. Kurz nach dem
Sturze Oelcassés noch hatte Fürst Bülow in einer Unterredung gesagt:
„Ich war glücklich, festzustellen, daß die Anschauungen des Herrn Rouvier
bezüglich der zu beobachtenden Grundsätze in Ubereinstimmung mit den
meinigen standen. Ich hoffe, daß derselbe Einklang sich auch auf der Kon-
ferenz kundgeben wird. Ich bin der Ansicht, daß diese Konferenz, weit
davon entfernt, und zu entzweien, dazu beitragen soll, uns zu nähern.
Für diese Annäherung ist allerdings eine Bedingung notwendig: man
muß sich im französischen Publikum darüber klar werden, daß jede Politik,