Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Die beiden Konferenzen: Algeciras und Haag. 289 
eine Flotte zu schaffen, — das genügte, um das Oeutsche Reich zum Tod- 
feinde Großbritanniens zu machen. Inwieweit die leitenden deutschen 
Staatsmänner in die Tiefe dieser Wahrheit und geschichtlichen Stellung- 
nahme Großbritanniens damals eingedrungen sind, läßt sich einwand- 
frei nicht feststellen, aber man kann annehmen, daß Fürst Bülow ihnen 
nicht ganz ferngeblieben ist. In seinen erwähnten ODenkwürdigkeiten 
vertritt er u. a. den Standpunkt (Beginn des Jahres 1914): seitdem die 
deutsche Verteidigungsstärke zur See genüge, könnten die deutsch-eng- 
lischen Beziehungen aufrichtig und vorbehaltolos freundliche und freund- 
schaftliche sein. — Der ebemalige Kanzler irrte sich leider erheblich in der 
Stärkebemessung der deutschen Wehrkraft zur See: sie war lange nicht 
ausreichend. Anderseits hatte Fürst Bülow recht, wenn er sagte, daß die 
auswärtige Politik des Deutschen Reiches während der Anfangejahre 
des Flottenbaues unter anormalen Verhältnissen arbeiten mußte, weil 
sie bis zu einem gewissen Grade im Dienste der deutschen Rüstungsfragen 
gestanden habe. Damals, so führt Bülow an einer anderen Stelle aus, 
„hatten wir eine Gefahrzone erster Ordnung in unserer auswärtigen Politik 
zu durchschreiten, denn wir sollten uns eine ausreichende Seemacht und 
eine wirksame Vertretung unserer Seeinteressen schaffen, ohne noch zur 
See genügende Verteidigungsstärke zu besitzen. Unbeschädigt und ohne 
Einbuße an Würde und Prestige ist Deutschland aus dieser kritischen Periode 
hervorgegangen.“ — Diese Kennzeichnung der Situation ist richtig, und 
die Kennzeichnung des Ergebnisses dieser Politik, die tatsächlich außer- 
ordentlich schwierig war, würde richtig sein, wenn die Marokkoepisode 
mit Algeciras nicht zu verzeichnen wäre. Sie muß aber verzeichnet werden 
und hat eine Bedeutung ersten Ranges. 
Das Jahr 1905 und ein Teil des Zahres 1906 ließ die wirkliche inter- 
nationale Lage des Deutschen Reiches in Europa noch nicht in voller 
Schärfe hervortreten, weil die deutsch-russischen Beziehungen damals gut 
waren. Die Haltung der deutschen Politik mit ihrer nicht nur lopalen, son- 
dern wohlwollenden ANeutralität Rußland gegenüber während seines 
ostasiatischen Krieges hatte den Beziehungen zwischen den beiden Herr- 
schern eine erhöhte Wärme gegeben. Die Beziehungen zwischen den bei- 
den Regierungen waren während des Krieges naturgemäß sehr gut ge- 
wesen, denn die deutsche Politik gab, und die russische nahm, ohne etwas zu 
geben. Eine Begegnung zwischen dem Oeutschen Kaiser und dem Zaren 
bei der Insel Björkö trug freundschaftlichen Charakter und erhöhte in 
Deutschland die Hoffnung, das Deutsche Reich werde in seinem östlichen 
Nachbarn einen gewissen Rückhalt in Zukunft haben. Diese Hoffnung 
erschien um so begründeter, als wie gesagt Frankreich durch seine Haltung 
während des ostasiatischen Krieges vielfach in Rußland verstimmt hatte 
Graf Reventlow, Deutschlande auswärtige Politik. 19
	        
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