Oas russisch-britische Abkommen und andere Abkommen. 321
frei von jedem Gedanken an Eroberungen oder Eingriffe in fremdes Ge-
biet.“ Dieses war eine ebenso grobe wie bewußte Unwahrheit, und zwar in
doppelter Richtung: Die Politik der Französischen Republik stand auf dem
Boden jener geheimen französisch-englisch-spanischen Abmachungen von
1904, welche sowohl Eingriffe wie Eroberungen in Marokko festgelegt hatten.
Ferner standen Pichons Worte auch im Widerspruche zu dem französischen
Vorgehen in Marokko während dem seit der Algeciraskonferenz verflossenen
Zahre. In dieser Zeit hatte eine französische Gesellschaft, trotz des Ein-
spruches des „souveränen“ Sultans, Systeme drahtloser Telegraphie in
Marokko eingerichtet, den Grundsatz der offenen Tür und der Gleichheit
des Handels in schroffer Weise mißachtet und in den Fragen des marok--
kanischen Polizei- und Bankwesens — auch Spanien gegenüber — un-
bedingte Führerschaft für sich in Anspruch genommen. Aun wurde jener
französische Arzt ermordet, und zwar wegen seines Auftretens gegen die
Eingeborenen, also durch eigene Schuld. In Frankreich drehte man die
Sache um und behauptete, die Deutschen hätten die marokkanische Be-
völkerung zum Morde aufgereizt, eine Behauptung, welche den Tatsachen
ins Gesicht schlug, aber von der englischen Presse mit erbitterter Heftigkeit
aufgenommen wurde. Die französischen Truppen besetzten die Stadt Udschda
und verletzten so ein Jahr nach der Algeciraskonferenz die Algecirasakte
und damit die Integrität des marokkanischen Gebietes auf das gröblichste.
Wenige Monate nachher, Anfang August, wurden in der Hafenstadt
Casablanca fünf französische und drei italienische Hafenarbeiter, die alle im
Dienste einer französischen Firma standen, ermordet. Ein französischer Kreu-
zer erschien vor Casablanca, man versuchte zunächst zu landen, die Landung
fand Widerstand, und daraufhin bombardierte der Kreuzer die Stadt und
legte sie zum großen Teil in Trümmer. Ein spanisches Kanonenboot be-
teiligte sich. Nach der Beschießung wurden zunächst 6000 Franzosen ge-
landet nebst geringen spanischen Truppen. Die französische Regierungs-
presse schrieb zu diesem Borgehen, daß es dem Geiste und dem Buchstaben
der Algecirasakte entspräche und eine Pflicht europäischer Solidarität sei.
Die beiden von Europa mit dem Polizeimandate ausgerüsteten Mächte
Frankreich und Spanien seien verpflichtet, energisch in Marokko einzu-
schreiten, wo sich Fremdenfeindlichkeit zeige. Die Besetzung von Casa-
blanca und Umgegend solle nur eine zeitweilige sein. Die deutsche Regierung
erklärte sich auch mit diesem Borgehen einverstanden. Im November 1907
erklärte Fürst Bülow, daß die Ereignisse in Casablanca vielleicht nicht ein-
getreten wären, wenn die in der Algecirasakte vorgesehene Polizeitruppe
vorher bereits in Arbeit gewesen wäre. „Wie die Verhältnisse lagen, blieb
der französischen Regierung wohl nichts anderes übrig, als zur Selbsthilfe
zu schreiten.“ Fürst Bülow sagte weiter, man habe deutscherseits dieser
Graf Reventlow, Deutschlands auewärtige Politik. 21