Orientpolitit und Bosnische Krisis. 335
auf dem Balkan hatten, jedenfalls eine Beränderung desselben nach irgend-
einer Seite hin verbindern oder zugunsten ihrer Bestrebungen zu beein-
flussen versuchen mußten.
Was bedeutete jenes viel gebrauchte und oft so wenig verstandene
Wort einer aktiven deutschen Orientpolitik. Welches konnten die deutschen
Ziele in dieser Richtung sein? «
Geschichtlich betrachtet, ist die Grundlage dieser deutschen Bestre-
bungen von Anfang an rein wirtschaftlicher Natur gewesen. Zm ersten
Abschnitt dieser Schrift ist erzählt worden, wie im Jahre 1888 Bismarck
dem mißtrauischen Zaren #llexander III. auf seine Frage „und Konstanti-
nopel“, versicherte: die damals vorbereitete Reise des Kaisers nach Kon-
stantinopel bezwecke keine Anderung des Status quc im Orient. Amtlich
wurde damale ausdrücklich die Erhaltung der Türkei proklamiert. Zenes
russische Mißtrauen war ebenso charakteristisch, wie die Antwort Bismarcke
der Wahrheit entsprach. Der Zar Alexander argwöhnte, es werde sich mit
der neuen deutschen Richtung auch ein neues störendes Element zwischen
Rußland und das geschichtlich überlieferte Ziel seiner Wünsche und Be-
strebungen: Konstantinopel, stellen. Die folgenden Jahrzehnte haben,
wie wir heute wissen, diesem wachen Mißtrauen recht gegeben, aber frei-
lich in einem anderen Sinne, als der Zar es meinte. Hätte Biemarck
Alexander III. gesagt, es werde Deutschlands Bestreben sein, das Türkische
Reich zu stärken und für die Erhaltung seiner Unabhängigkeit zu wirken,
so würde Alexander es wahrscheinlich nicht geglaubt, sondern die Ant-
wort für eine ganz besonders raffinierte Aueflucht gehalten haben.
Biemarck hat das Türkische Reich früher, wenn nicht mit Gleichgültig-
keit, so doch gewissermaßen als Corpus vile behandelt. Ihm lag nicht an
seiner Erhaltung; jedenfalls war der Gedanke, die Türkei zu erhalten, für
ihn nicht ohne weiteres mit wichtigen Fragen der deutschen Zukunft ver-
knüpft. Auch in seinen „Gedanken und Erinnerungen“" hat der große
Staatomann den Standpunkt vertreten, daß Deutschland unter Umstän-
den für vorteilhaft halten könnte, Konstantinopel, also alles, was zum Kern
des Türkischen Reiches gehört, an Rußland zu geben und dem Sultan
etwa eine Nolle zuzuweisen, wie die ehemaligen Herrscher von Algier, Tunis,
Agppten und Marokko sie unter ihrer englischen oder französischen Ober-
berrschaft zu spielen hatten. Der Zweck eines solchen deutschen Zuge-
ständnisses würde gewesen sein, mit Rußland in neue gefestigte Beziehungen
zu gelangen, anderseits den Gegensatz zwischen Rußland und Groß-
britannien zu einem unversöhnlichen zu machen und Frankreich politisch
wie wirtschaftlich vom Orient aus bedrängt werden zu lassen. In diesem
Bismarckschen Gedanken lag eine gewaltige europäische wie weltpolitische
Umwälzung eingeschlossen, begründet auf dem Bestreben eines engen