330 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
deutsch-russischen Zusammengehens und damit einer Beherrschung Europas
durch Deutschland und Rußland nebeneinander.
Oie deutsche Politik ist seit 1888 den entgegengesetzten Weg gegangen.
Sie erblickte nicht nur in der Erhaltung des Türkischen Reiches ein
wesentliches Element für die deutsche Zukunft, sondern setzte sich zum Ziel,
über die Erhaltung binaus die Stärkung der Türkei anzustreben. Darin
lag das neue Element: eine europäische Großmacht ging ohne Hinter-
gedanken aufrichtig auf Stärkung des Türkischen Reiches im IZnneren
und nach außen hin aus. ODas Motio, bzw. der Zweck dieses Bestrebens
lag auf zwei Gebieten: das Deutsche Reich wollte sich in der Türkei und
im Orient überhaupt einen neuen Albsatzmarkt für seine Zndustrie und
eben damit ein wachsendes Tätigkeitsfeld für seine Finanz und seinen Handel
schaffen. Ze leistungsfähiger ein solcher Markt ist, je aufnahmefähiger
und kaufkräftiger, desto wertvoller wird er für den Verkäufer. Die Kauf-
kraft einer Bevölkerung hängt von ihrem wirtschaftlichen und politischen
Wohlergehen ab, und dieses wiederum von den gesamten Berhältnissen
im Reiche oder im Staate. Innere Unruhen, Eingriffe von außen, Aus-
saugung und Zerstückelung liefen diesen wirtschaftspolitischen Zielen des
Deutschen Reiches zuwider. Daraus entstand von vornherein ein innerer
Gegensatz zwischen der Orientpolitik des Deutschen Reiches und derjenigen
der anderen europäischen Großmächte mit Ausnahme ÖOsterreich-Ungarns.
Von diesen Großmächten verfolgte Rußland, seinem jeweiligen Können
oder Nichtkönnen angemessen, die Schwächung und Bernichtung des
Türkischen Reiches. Großbritannien, damals der Gegner Rußlands, war
bestrebt, seinen Einfluß in Konstantinopel zum herrschenden zu machen,
politisch wie wirtschaftlich, und gleichzeitig das Turkische Reich auf dem
Balkan wie in Arabien usw. zu schwächen, dabei den russischen Einfluß
auszuschalten. Zm Berlaufe dieser Schrift ist gezeigt worden, wie wäh-
rend der neunziger Jahre und bis zum Russisch-Zapanischen Kriege die euro-
päischen Festlandmächte wiederholt in Orientfragen gegen Großbritan--
nien zusammenstanden, mit Ausnahme von Ztalien. Kurz, es war, wenn
auch mit Bariationen und bei manchem Wechsel der Nollen, das beinabe
hundert Fahre alte Schauspiel der einander politisch und wirtschaftlich
bekämpfenden Großmächte, die eben durch ihre Gegensätze und Eifer-
sucht die Vernichtung der Türkei verhinderten, weil jede fürchtete, sie
werde den anderen gegenüber nicht genügend auf ihre Kosten kommen.
Der türkische Sultan Abdul Hamid kannte die Bestrebungen der Groß-
mächte genau und war ein Meister auf dem Schachbrett der europäischen.
Politik und Diplomatie. Unter den schwierigsten und, man kann wohl
auch sagen, den faulsten inneren Berhältnissen in seinem Reiche, unter
schwerstem Drucke von allen Seiten, verstand er es immer, die Großmächte