Orientpolitik und Bosnische Krisis. 337
ebenso wie die Balkanstaaten gegeneinander auszuspielen und dadurch
ein — freilich sehr labiles — Gleichgewicht zur Erhaltung seines Reiches
von Fall zu Fall herbeizuführen.
Abdul Hamid, so mißtrauisch er war, erkannte den gänzlich verschie--
denen abweichenden Charakter der neuen deutschen Orientpolitik im
Gegensatz zu dersenigen Rußlands, Großbritanniens und Frankreichs.
Er begriff ohne weiteres, daß das Deutsche Reich weder Konstantinopel,
noch Arabien, noch andere Punkte und Gebiete, die der Türkei gebörten,
für sich haben wolle, und daß dem Deutschen Reiche mit Schwächung und
Zersetzung des Türkischen Reiches nicht gedient sein würde, im Gegen-
teil. Der Sultan machte so in seinem begründeten und vielseitigen Miß-
trauen gegen die Politik der Mächte eine Ausnahme gegenüber der deut-
schen Politik und vor allem persönlich dem Deutschen Kaiser gegenüber.
Kaiser Wilhelm hat mit psychologisch richtigem Blicke auch auf dieses per-
sönliche Moment besonders Wert gelegt und den Sultan vom Anfang
bis zum Abschluß seiner Regierung als einen ihm gleichgeordneten sou-
veränen Herrscher behandelt, ihm Vertrauen und Freundschaft entgegen-
gebracht. Abdul Hamid hat dieses Vertrauen und diese freundschaftliche
Gesinnung in gleicher Weise gelohnt und zurückgegeben, gleichzeitig in
der Erkenntnis, daß die deutschen Pläne das Wohl des Türkischen Reichs
und Volkes fördern würden. Dabei war, und zwar auf deutscher wie auf
türkischer Seite, nicht nur das wirtschaftliche Moment maßgebend, sondern
auch das machtpolitische: je stärker die Türkei wurde, desto mehr Wider--
stand konnte sie den Bernichtungsbestrebungen anderer MNächte entgegen-
setzen, desto eher konnte sie eine selbständige wirkliche Politik treiben und
aus ihrem derzeitigen Zustande, ein Objekt der Mächte zu sein, hinaus-
LHelangen. Dabei war Abdul Hamid sich bewußt, daß es dem Deutschen
Reiche nicht möglich sein werde, unter allen Umständen und Verhältnissen
gegen die anderen Großmächte als Bertreter türkischer Interessen und
als Schützer des Türkischen Reiches aufzutreten. Die Lage des Oeutschen
Reiches komplizierte sich politisch durch die neuen Beziehungen zur Türkei
noch mehr, als es schon der Fall war. Als Grundsatz der jeweiligen Deut-
schen Reichskanzler für die neue Orientpolitik kann man durchschnittlich
bezeichnen: an keiner internationalen Aktion teilzunehmen, welche sich
gegen die Türkei richtete. Zwistigkeiten der Türkei mit einer oder mehreren
Mächten durch freundschaftliche Vermittlung beizulegen oder zu mildern,
jede Maßnahme zugunsten der Türkei zu vertreten und zu fördern. Ob
diese Grundfätze stets geschickt und energisch betätigt worden seien, das
ist eine Frage, welche nur im Rahmen einer eingehenden Sonderbetrach-
tung der deutschen Orientpolitik beantwortet werden konnte.
Der Grundgedanke der neuen deutschen Orientpolitik trotz allen
Graf Reventlow, Deutschlande auswärtige Politik. 22