344 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
den Berliner Kongreß 1878 anerkannte Balkanmacht geworden, denn da-
mals erdbielt die Monarchie die beiden sogenonnten Okkupationsgebiete
Bosnien und die Herzegowina, das Recht militärischer Garnisonen und,
des Straßenbaues im Sandschak Nowibasar. Weder im Sinne der Er-
werbung von Bosnien und der Herzegowina hatte es gelegen, damit eine
Politik der Gebietsausdehnung auf der Balkanhalbinsel anzubahnen,
noch ist dieses später der Fall gewesen. Oie österreichisch-ungarische Politik
wollte lediglich diesen ihren Erwerb erhalten, sichern und im IZnnern
ausbauen. Sie strebte ferner danach, fruchtbare Handelsbeziehungen mit
den Balkanstaaten und der Türkei zu unterhalten. Auch am Adriatischen
Meere hat ÖOsterreich-Ungarn eine Politik der räumlichen Ausdehnung.
nicht gewollt und nicht versucht. In dem bis zum ersten Balkankriege
(l912) zum europäischen Besitze der Türkei gehörigen Albanien wurde
ebenfalls unter wirtschaftlichem Gesichtspunkte versucht, freundschaftlich mit
der Bevölkerung zu leben, erleichtert durch die Tatsache, daß die römisch—
katholischen Stämme der Albaner von selbst in gewissen Beziehungen zur
österreichisch-ungarischen Geistlichkeit standen. Der südliche Teil Albaniens
bildete seit langer Zeit den Gegenstand italienischen Begehrens, und die
italienische Tätigkeit wirtschaftlicher und zivilisatorischer Durchdringung
wurde steigend und methodisch gefördert. Der Unterschied war, daß Ita-
lienô Augenmerk letzten Endes immer darauf gerichtet gewesen ist, an der
albanischen Küste der Adria Fuß zu fassen, damit die Adria zu beherrschen
und Osterreich-Ungarn vom Meere abzudrängen, also eine Politik der
Expansion auf Kosten Österreich-Ungarns. Österreich-Ungarn seinerseits
dachte an keine politischen Pläne auf Kosten Italiens, sondern nur an die
Festigung seines Besitzstandes, verbunden mit der allen Mächten gleicher-
maßen angelegenen wirtschaftlichen Ausdehnung auf der Balkanhalbinsel.
Die Verhältnisse in Österreich-Ungarn hatten während der geschil-
derten Zahrzehnte beinahe ununterbrochen im Zeichen des Kampfes der
Nationalitäten im Innern gestanden. Besonders gegen Ende der neun-
ziger Fahre erreichten diese Streitigkeiten einen bedenklichen Höhepunkt.
Die Kraft des Staates wurde gelähmt und eine eigentliche auswärtige
Politik, welche über das Bestreben, mit allen Mächten in möglichst gutem
Einvernehmen zu leben, hinausging, gab es nicht. Oie Finanzlage war
dauernd ungünstig und nur unter größten Schwierigkeiten gelang es,
das Heer auf achtbarer Höhe zu halten, während die Seemacht in den
allerengsten Grenzen blieb, obgleich das Bedürfnis nach einer starken
Flotte angesichts der steigenden Seeinteressen und der Stärke der
italienischen Flotte unleugbar war.
Streitigkeiten, Unlust und Mutlosigkeit gaben dem öffentlichen Leben
in Osterreich-Ungarn sein Gepräge. In den undeutschen Teilen der