Orientpolitik und Bosnische Krisis. 345
Bevölkerung bildete sich eine steigende Abneigung gegen das Bündniever--
hältnis mit dem Deutschen Reiche heraus, und die russischen, französischen,
englischen Einflüsse unterließen keine Gelegenheit, diese Abneigung und
damit die Uneinigkeit weiter zu fördern. Die Folge dieser Verhältnisse
war, daß man in Europa die österreichisch-ungarische Monarchie als dem
Untergange geweiht ansah, jedenfalls glaubte, sie werde in einem euro-
päischen Kriege ohne weiteres zerfallen.
Das russische Streben nach der Herrschaft auf der Balkanhalbinsel
war durch die Ergebnisse des mißglückten Türkenkrieges und des an sie
sich anschließenden Berliner Kongresses nicht berührt worden. Die bul-
garische Krisis der achtziger Jahre hatte nicht nur gezeigt, daß Rußland
ein nicht unter seiner Vormundschaft stehendes Bulgarien nicht wollte,
sondern auch, daß jede derartige Frage, sobald sie akut wurde, den russisch-
österreichischen Konflikt in unmittelbare Nähe bringen mußte. Das Er-
gebnis dieser Balkanfragen war es damals, welches den Fürsten Biemarck
zwang, wider Willen zwischen Rußland und Osterreich- Ungarn zu optieren,
ferner das Bündnis mit der Doppelmonarchie zu schließen und seinen Ab-
schluß von der Tribüne des Reichstages der Welt zu verkünden, damit
der Friede Europas erhalten bliebe. Ebendaher rührte auch die Politik
des Fürsten Bismarck, die Balkanangelegenheiten nach Möglichkeit ab-
zuschieben, sie als gleichgültig zu behandeln und durch die Betonung
dieser Gleichgültigkeit auch den österreichisch-ungarischen Staatsmännern
nahezulegen, sich in der Balkanpolitik zurückzuhalten. Die Balkanpolitik
der Doppelmonarchie ist nicht immer zielbewußt gewesen, besonders nicht
im Hinblick auf die Beziehungen zu Bulgarien und zu Serbien. Es mutet
heute sonderbar an, daß in dem bulgarisch-serbischen Kriege Österreich-
Ungarn es war, welches — während Rußland keinen Finger für Serbien
rührte — nach der Schlacht von Sliwnitza eingriff und Serbien rettete,
dasselbe Serbien, für dessen Bergrößerung Osterreich-Ungarn auf dem
Berliner Kongresse tatkräftig und erfolgreich eingetreten war. Den Zweck
seiner Rettung Serbiens hatte Osterreich- Ungarn nicht erreicht, denn König
Milan von Serbien, der im Gegensatz zur panslawistischen, nach der ruf-
sischen Seite hinstrebenden Richtung seines Landes Stütze und Anschluß
bei Osterreich-Ungarn gesucht und gefunden hatte, mußte nach der Schlacht
von Sliwnitza abdanken. Auf den Thron gelangte sein minderzjähriger,
geistig und moralisch minderwertiger Sohn Alexander. Mit ihm konnten
die russischen Einflüsse bald fertig werden. Seine Heirat mit Oraga
Maschin erschütterte seine Stellung dem Volke gegenüber endgültig, die
Ermordung folgte, und der alte Kandidat Rußlands, Peter Karageorge-
witsch bestieg den Thron Serbiens. Diese Thronbesteigung bildete den
eigentlichen Wendepunkt und den Beginn der Entwicklung Ser-