Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

348 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
dieser Arbeit und der britischen Politik war, Schwächung, womöglich 
Auflösung des Türkischen Reiches, indem man fortwährend Unruhen 
erzeugte und Reformen verlangte, die, wie in London wohl bekannt war, 
angesichts der türkischen Zustände nicht durchzuführen waren. Die Stel- 
lung Frankreichs zur Türkei war eine verhältnismäßig freundliche, jeden- 
falls bis zum Russisch-Zapanischen Kriege, wegen der sehr großen geldlichen 
Interessen und der noch größeren Konzessionswünsche Frankreichs in 
der Türkei. Daraus ergab sich das Bestreben, sich mit der Pforte gut zu 
stellen und dem wachsenden deutschen Wettbewerb nach Möglichkeit die 
Spitze zu bieten. Großbritanniens Ziele waren anderer Art: sie gingen 
auf Auflösung des Türkischen Reiches und Abtrennung Arabiens unter 
großbritannischem Zepter. Die britische Flotte sollte dann die türkischen 
Gewässer einschließlich der Meerengen beherrschen. 
Das Mürzsteger Abkommen lief den Wünschen in London zuwider, 
und König Eduard VII. begann bereits 1903 anläßlich eines Besuches in 
Wien seinen Einfluß auf englische Beteiligung an den Balkanfragen, also 
auf englische Einmischung, geltend zu machen. Die geschickte, zielsichere 
Arbeit hatte Erfolg. Im Zahre 1905 war es nicht nur der englischen, son- 
dern auch der französischen Politik gelungen, ihren Einfluß in das damals 
aufgestellte Reformprogramm für die türkischen, insbesondere für die 
mazedonischen Zustände einzuführen. Die mazedonische Finanzkontrolle 
mit allem, was daran hing, wurde den sechs Großmächten in die Hände 
gelegt, damit, wie die britischen Vertreter sich ausdrückten, auch die an- 
deren Mächte das Recht hätten, sich zur Geltung zu bringen. Der Sultan 
verweigerte die Annahme des Reformprogrammes, von dem er erkannte, 
daß es gegen den Bestand seines Reiches gerichtet war. Die Folge war 
eine internationale Flottendemonstration, zugleich die Beschlagnahme 
der Zölle und der Postanstalten. Der Sultan gab dem Druck nach, nach- 
dem er erreicht hatte, daß in der internationalen Finanzkommission auch 
ein türkischer Beamter zugelassen wurde. Das Deutsche Reich hatte sich 
an dieser Druckaktion nicht beteiligt, getreu seinem Grundsatz, auch nicht 
den Schein einer unfreundlichen Haltung der Türkei gegenüber auf sich 
zu laden. 
Der Umschwung der Balkanverhältnisse war groß und grundsätzlich. 
An die Stelle des biöherigen russisch-österreichischen Einvernehmens auf 
der Balkanhalbinsel war ein internationaler Rat unter Führung Groß- 
britanniens getreten. Die britische Politik sprach das gewichtigste Wort 
bei der Gestaltung der sogenannten Reformprogramme, welche die Stel- 
lung der Türkei in Europa mit der Zeit unhaltbar machen sollte. Für 
Deutschland wie für Österreich-Ungarn war diese Wendung böchst un- 
erwünscht, aber ihre Politik wußte kein Mittel dagegen. Mit dem Jahre
	        
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