Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

356 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
alten Gegner mit Frankreich und den Balkanstaaten hinter sich über ihre 
Türkeipolitik einig geworden. Diese Einigung faßte man in der Türkei als 
Lebensgefahr für ihren Bestand auf, da das mazedonische Reformprojekt 
die Zntegrität der europäischen Türkei aufs tiefste berührt und den An- 
fang von ihrem Ende gebildet haben würde. Tiefe Beunruhigung ging 
durch die Türkei, und wenige Wochen darauf hatte das jungtürkische 
Komitee die Gewalt in Händen. Das liberale Programm des Komitees, 
welches trotz Sultan und Regierung und trotz eigener Namenlosigkeit 
regierte, wirkte zunächst volkstümlich. Der oberste Programmpunkt war: 
ungeschmälerter Bestand des Türkischen Reiches, alle Nationalitäten und 
Bekenntnisse sollten gleiche Rechte haben, mit durchgreifenden Reformen 
sollte sofort begonnen werden. Dem Revaler Programm, welches diese 
Reformen für Mazedonien dem Türkischen Reiche in Gestalt internationaler 
Kontrolle aufzwingen wollte, war damit bis auf weiteres der Boden ent- 
zogen. Seine Durchführung wurde zurückgestellt, um, wie Sir E. Gren 
sagte, dem neuen jungtürkischen Regime Zeit zu geben. Es ist nach den ge- 
schilderten inneren Zusammenhängen wohl verständlich, wenn Grey im 
Unterhause sagte: „Wir begrüßen für den #A#lugenblick die neugeschaffene 
Lage . unsere Ziele in Mazedonien sind niemals politische gewesen.“ 
Zm BVerlaufe derselben Rede betonte Grey, daß er an eine Politik der 
Isolierung des Deutschen Reiches nicht im entferntesten denke. Dabei 
glaubte er und glaubte die ganze Tripelentente hoffnungsfreudig, daß man 
durch die Entfachung der jungtürkischen Bewegung einen weiteren ent- 
scheidenden Schritt zur Isolierung Deutschlands getan habe, zur Isolierung 
nämlich vom Orient. Man hoffte mit Bestimmtbeit, daß durch die Aus- 
schaltung Abdul Hamids, auf dessen zwei Augen die deutsch-türkische Freund- 
schaft gestanden habe, nunmehr dieser selbst ein Ende gemacht worden 
sei und damit auch den wirtschaftlichen Konzessionen an Deutschland und 
den deutsch-türkischen Bahnbauten. Wären die britisch-russischen Pläne 
gelungen, so würde damit in schroffem Widerspruche zu den Worten Greys 
dem Deutschen Reiche wirtschaftlich wie politisch ein schwerer Schlag zu- 
gefügt worden sein. 
Zn Konstantinopel und überhaupt in den Städten der europäischen 
Türkei herrschte, wie gewöhnlich bei solchen Umwälzungen, zunächst nach 
Einführung des jungtürkischen Regimes ungeheure Begeisterung. Man 
sah nur Befreiung, Morgenröte und anderes Schöne. Als Merkwürdiges 
kam hinzu, daß die Balkanvertreter des Neoslawiemus und eines Balkan- 
bundes die jungtürkische Bewegung zum Anlasse nahmen, um die beiden 
im GErunde so verschiedenen Bewegungen politisch zu verschmelzen. Die 
großserbische Propaganda flammte mit nie vorher dagewesener Heftigkeit 
auf, und von Petersburg aus wurde wieder die Parole: der Balkan den
	        
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