Orientpolitik und Bosnische Krisis. 357
Balkanvölkern, natürlich unter russischer Bormundschaft, verkündet; der
germanische Einfluß sollte vom Balkan vertilgt werden.
Da wurde am 5. Oktober 1908 das folgende Schreiben des Kaisers
Franz Joseph an den Freiherrn v. Aehrenthal veröffentlicht:
„Durchdrungen von der unerschütterlichen Uberzeugung, daß die
hohen kulturellen und politischen Zwecke, um derentwillen die österreichisch-
ungarische Monarchie die Besetzung und Berwaltung Bosniens und der
Herzegowina übernommen hat, und die mit schweren Opfern erzielten
Erfolge der bisherigen Berwaltung nur durch die Gewährung von ihren
Bedürfnissen entsprechenden verfassungsmäßigen Einrichtungen dauernd
gesichert werden können, für deren Erlassung aber die Schaffung einer klaren
unzweideutigen Rechtsstellung beider Länder eine unerläßliche Voraus-
setzung bildet, erstrecke ich die Rechte meiner Souverêènität auf Bosnien
und die Herzegowina und setze gleichzeitig die für mein Haus geltende
Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit. Zur Kundgebung
der friedlichen Absichten, die mich bei dieser unabweislichen Verfügung ge-
leitet haben, ordne ich gleichzeitig die Räumung des Sandschaks Nowibasar
von den dahin verlegten Truppen meiner Armee an.“
Mit andern Worten: Die bis dahin laut Artikel 25 des Berliner Ver-
trages von Österreich-Ungarn nur besetzten und verwalteten „Okkupations--
gebiete“ Bosnien und die Herzegowina wurden nunmehr im Sinne des
Begriffes annektiert, staatsrechtlich den übrigen Gebieten der Doppel-
monarchie angegliedert. Wenn der derzeitige österreichisch-ungarische Be-
vollmächtigte, Graf Julius Andrasspy, während des Berliner Kongresses ge-
wollt hätte, so würde damals dem Schritte nichts im Wege gestanden haben,
welchen Kaiser Franz Loseph am 5. Oktober 1908 tat und bekanntgab.
Diesen Schritt zu tun lag aber nicht in den Absichten Andrassys, und es
blieb bei dem Rechte der Besetzung und Berwaltung für unbegrenzte Zeit.
Freilich hatte Andrassy noch vor Schluß des Berliner Kongresses sich zu
einem Zugeständnisse an die türkische Regierung bewegen lassen, indem er
den türkischen Bevollmächtigten durch ein geheimes Abkommen sich ver-
pflichtete: die Okkupation Bosniens und der Herzegowina sei nur eine
zeitweilige und ändere nichts an den Souveränitätsrechten des Sultans.
Die türkischen Bevollmächtigten erklärten, sie brauchten diese Akte nur zu
ihrer persönlichen Deckung dem Sultan gegenüber, sie werde im übrigen
stets geheim gehalten werden. Sonst könnten sie aber die Berliner Kon-
greßakte nicht unterzeichnen. Andrassy gab nach und hat damit der Türkei
immerhin eine Waffe für den Fall österreichisch-ungarischer Annexions-
wünsche in die Hand gelegt. Als dann nach Unterzeichnung der Berliner
Kongreßakte noch ein entsprechender Sondervertrag zwischen ÖOsterreich-
Ungarn und der Türkei zustande kam, blieb aber die Klausel vom proviso-