Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Orientpolitit und Bosnische Krisis. 365 
  
  
gesehen hatten, daß ihr anfänglicher Plan, durch Brüskierung ihre Wünsche 
durchzusetzen, nicht in Erfüllung ging, einigten sich die Mächte der Tripel- 
entente unter Zuziehung Italiens, der Türkei — welche gegen die Annexion 
protestiert hatte — und des Kompensationen für getäuschte Hoffnungen 
fordernden Serbiens auf den großbritannischen Standpunkt: die be- 
stehenden und gültigen Beschlüsse eines internationalen Kongresses könnten 
nur durch einen Kongreß, zur Not durch eine Konferenz aufgehoben oder 
geändert werden. Folglich müsse auch jetzt eine Konferenz berufen werden. 
Baron Aehrenthal wies den Konferenzvorschlag nicht von vornherein und 
völlig von der Hand, machte aber zur Bedingung einer Beteiligung Öster- 
reich-Ungarns an der Konferenz, daß die Annexion und die sonstigen 
Schritte und Maßnahmen der DOoppelmonarchie auf dieser Konferenz nicht 
zur Erörterung gestellt würden und ebensowenig die Kompensations- 
forderungen Serbiens. Um diese Punkte drehten sich im wesentlichen 
während des Winters 1908/09 die diplomatischen Meinungsverschieden- 
heiten. 
Znternationale Konferenzen solcher Art sind gefährliche Veranstal- 
tungen, schon die Algeciraskonferenz und die englischen Wünsche für die 
Haager Konferenz bildeten warnende Beispiele. Für Osterreich-Ungarn 
und damit auch für Deutschland lag 1908 die Frage noch viel schwerer. 
In einer Lebensfrage — und die Bosnische Frage war für ÖOsterreich-Ungarn 
eine Lebensfrage —, ja auch überhaupt in einer Streitfrage, zu der sie 
bereits entschiedene Stellung genommen hat, kann eine auf ihre Würde 
und ihr Ansehen bedachte Großmacht nicht international über die Berech- 
tigung ihrer Entschlüsse und Maßnahmen diskutieren und entscheiden lassen. 
So bleiben zwei Wege: die Konferenz wird zur leeren Form, indem die 
betreffende Macht vorher bindende Zusicherungen von allen Mächten 
einzeln erhält, daß man auf der Konferenz den neuen Stand der 
Dinge lediglich feststellen und sanktionieren wird, oder aber an Stelle der 
Konferenz treten Einzelverständigungen zwischen den verschiedenen Mäch- 
ten. Der Gedanke einer rein formalen, lediglich registrierenden Konferenz 
wurde auch während der Bocnischen Krisiö erwogen. Eine solche wäre 
wahrscheinlich aber praktisch nicht durchführbar gewesen, weil das Tür- 
kische Reich und Serbien von vornherein gerade angesichts einer Kon- 
ferenz nicht entfernt daran gedacht hätten, den neuen Stand der Dinge 
anzuerkennen, weil ferner Bulgarien als nunmehr unabhängige Macht 
Teilnahme an der Konferenz beansprucht hätte und die Türkei sich solcher 
Teilnahme ohne Zweifel widersetzt haben würde. 
Die deutsche Politik vertrat den Standpunkt praktischer Zweckmäßig- 
keit: eine Konferenz brauche man zwar nicht grundsätzlich zu verwerfen, 
sie müsse aber sorgfältig genug vorbereitet sein, um Beunruhigung und
	        
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