Potsdam — Agadir — Tripolis, 1909—1912. 393
politische Übereinkunft schriftlich zu formulieren, weigerte sich Ssasonow,
und die Antwort der russischen Regierung lautete: eine schriftliche Fixie-
rung sei nicht beabsichtigt, auch nicht nötig, da das Wort des Zaren genüge.
Zm amtlichen Berlin rief diese Wendung eine starke Enttäuschung hervor,
denn man hatte sich dort nach den Potsdamer Unterhaltungen in der Tat
eine neue Ara der deutsch-russischen Beziehungen versprochen. Auch der
sonst sehr nüchterne Kiderlen-Waechter war unmittelbar nach den Be-
sprechungen der Uberzeugung, daß wirklich etwas Ahnliches wie der alte
Rückversicherungsvertrag zustande gekommen sei. Wie schon die aller-
nächsten Zahre erwiesen, war das eine erhebliche Täuschung gewesen, und
Rußland dachte nicht daran, von der großen Linie seiner Politik, im be-
sonderen seiner Orientpolitik, abzuweichen.
Bom Potedamer Abkommen hatte die russische Regierung den weiteren
Vorteil, daß Großbritannien und Frankreich beflissener denn je wurden,
sich die russische Freundschaft zu erhalten. Für die deutsche Politik be-
deutete das Abkommen insoweit eine Reuheit, als das Oeutsche Reich sich
amtlich zum ersten Male mit den anderen Großmächten in den Vorder-
grund der Balkanpolitik begab. Die alte deutsche Formel: allen Balkan-
fragen gegenüber in der „Hinterhand“ zu bleiben, sich in Balkan- und Orient-
dingen nur als indirekt interessiert zu bezeichnen, war mit dem Augenblick
öffentlich verworfen worden, als im Potsdamer Abkommen das Deutsche
Reich zusammen mit Rußland die Erhaltung des Status quo im Orient
als seine Politik bezeichnete. Dieses Herausrücken aus der „Hinterhand“
lag, wie nach allem Gesagten nicht mehr begründet zu werden braucht,
in der notwendigen Weiterentwicklung der deutschen Orientpolitik. Wollte
man diese, so mußte die Zurückhaltung einmal aufgegeben werden. Gleich-
wohl war der Augenblick, in dem Deutschland ausdrücklich als direkt inter--
essierte Balkan- und Orientmacht auftrat, von Bedeutung, und beson-
ders, daß dieses im Augenblicke erfolgte, als die russische Regierung er-
klärte, den Bagdadbahnbau nicht mehr hemmen zu wollen: Die deutsche
Orientpolitik arbeitete nun auch in Balkandingen nicht mehr allein durch
das Medium Österreich-Ungarns und seiner Znteressen, sondern auch
direkt.
Während der Zeit dieses scheinbaren Einlenkens und Schwenkens der
russischen Politik nach der deutschen Seite hin wuchs der russische Haß gegen
Osterreich-Ungarn und gegen das Deutsche Reich, gegen alles Deutsche
immer allgemeiner zu bitterem Fanatièômus. Dieser Haß wurde volke-
tümlich und beilige Nationalsache. Bosnien wurde nicht vergessen: die
Zeit werde kommen, wo Rußland seine Rache an Deutschland und Osterreich-
Ungarn für die Demütigung und den Prestigeverlust von 1908 nehmen.
werde.