Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Potsdam — Agadir — Tripolie. 1909—1912. 413 
  
Augenblick gekommen. Das Türkische Reich war noch durch die Revolu- 
tion geschwächt, außerdem durch seine noch zu erwähnenden inneren Un- 
ruhen. Das Deutsche Reich befand sich in der Marokkospannung, war eben 
durch eine schärfere Kriegskrisis hindurch gegangen, sah sich bedroht und 
wünschte den Frieden. Ztalien glaubte nicht besorgen zu brauchen, daß 
von dorther Einspruch käme. Ein italienisches Blatt schrieb: Deutschland 
habe seine Zustimmung zur Tunifizierung Marokkos gegeben, es könne 
mitbin auch nichts gegen die Tunifizierung Tripolitaniens haben. Was 
Tripolitanien betraf, so war dieses allerdings altes italienisches Einfluß- 
gebiet und als solches auch von der Türkei anerkannt. Auch manche der 
italienischen Beschwerden waren an sich begründet und bedeuteten nicht 
mur Vorwände. Als Kriegsgründe ausgegeben freilich wurden sie zu Vor- 
wänden. Die Türkei hatte, wie der folgende Krieg zeigte, ihre tripolitanische 
Provinz stark vernachlässigt. Das galt für die Berwaltung, für die Truppen, 
für die Befestigungen, kurz, für alles. Die Frucht schien reif, und das italie-- 
nische Kabinett Giolitti, Minister des Auswärtigen war der Marquis di 
San Giuliano, griff zu. Das ganze italienische Volk stand begeistert zur 
Regierung und um den König. Selbst die Sozialisten schlossen sich von 
dieser Begeisterung und nationaler Opferwilligkeit nicht aus; die im- 
perialistische italienische Idee des „römischen Imperialimus“ hatte die 
Nation in Flammen gesetzt und einigte sie. Das tripolitanische Unternehmen 
war im übrigen sorgfältig vorbereitet worden und funktionierte organisato- 
risch zu Wasser und zu Lande in einer Weise, wie es vielfach Erstaunen er- 
regte. Der Verlauf des tripolitanischen Krieges bot im übrigen militärisch 
nichts Bedeutendes. Es ist den IFtalienern im Laufe der Zeit gelungen, 
den Küstensaum sicher in ihre Hand zu bringen, aber nur einen Teil des 
Binnenlandes. Im übrigen war es, wie der Freiherr v. der Goltz sich aus- 
drückte, ein immer mehr versumpfender Krieg, und die Widerstände der 
Eingeborenen wurden mit der Zeit nicht schwächer, sondern stärker, nachdem 
Enver Bey, der spätere Enver Pascha, sich mit der ganzen ihm innewohnen- 
den Werbekraft an die Spitze der ihr Land verteidigenden Mohammedaner 
gesetzt und sie organisiert hatte. Ein königliches Dekret erklärte Anfang 
November 1911 die italienische Annexion von Tripolitanien, eine Hand- 
lung, welche tatsächlichen Wert nicht besaß, denn der Widerstand der Ein- 
geborenen wurde dadurch nicht geringer, und das Türkische Reich erkannte 
die Annexion nicht an. Der Ausspruch der Annexion bezweckte politisch 
die Anerkennung der Großmächte und wohl im besonderen, daß Deutsch- 
land und Osterreich-Ungarn auch unter dem Gesichtspunkte der Dreibund- 
verträge Tripolitanien als italienisches Gebiet gelten ließen. 
Für das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn war der tripolitanische 
Krieg in jeder Beziehung unerwünscht: Italien, der Bundesgenosse, ent-
	        
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