Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Die Sendung Lord Haldanes, ihre Begleitumstände und Folgen. 451 
  
ob Großbritannien den festen Willen hätte, einen europäischen Krieg nicht 
eintreten zu lassen und den Frieden zu erhalten. Wie der Reichskanzler richtig 
sagt, hätte ein vertrauensvolles britisch-deutsches Berhältnis und gar ein 
Neutralitätsvertrag der beiden Mächte den europäischen Frieden gesichert. 
Diesem Wunsche gegenüber stand aber die Erfahrungstatsache, daß die- 
jenige europäische Lage und Mächtegruppierung, welche den europäischen 
Frieden von Jahr zu Zahr mehr gefährdete, gerade durch die sostematische 
Arbeit der großbritannischen Politik angestrebt und erreicht worden war 
und dauernd weiter genährt wurde. Aun stützte der Deutsche Reichskanzler, 
wie seine angeführten Worte zeigen, seine Auffassung darauf, daß in weiten 
Kreisen der englischen Nation sich eine Stimmung geltend gemacht hätte, 
„ein Berhältnis mit uns herstellen zu wollen, das kriegerische Berwick- 
lungen ausschlösse “. Mit andern Worten: die großbritannische Politik 
hätte durch den Einfluß dieser Kreise in ihr striktes Gegenteil verkehrt 
werden müssen. Ohne Zweifel hätte ein Neutralitätsvertrag auch den 
Zerfall des Dreiverbandes bedeutet. Dazu waren jene Kreise teils nicht 
imstande, teils auch gar nicht willens, übrigens auch im ganzen ohne Ein- 
fluß. Sie wollten wohl Frieden, aber nur unter der Bedingung, daß das 
Deutsche Reich allen ernstlichen englischen Wünschen nachgäbe. Außerdem 
glaubten sie, daß in Deutschland sehr einflußreiche Strömungen den Krieg 
mit England wünschten, auf ihn hinarbeiteten und nur den geeigneten 
Moment erwarteten. Eben diese Ansicht hat auch Lord Haldane vertreten, 
— freilich wider besseres Wissen, denn er kannte Deutschland. — In 
ihm sah die deutsche Regierung einen aufrichtigen Freund des Friedens 
und einen aufrichtigen Freund des Oeutschen Reiches. Er hat sich als 
das Gegenteil von beiden erwiesen. 
Die in den angeführten gegenseitigen Vorschlägen vorgekommenen 
Begriffe des unprovozierten Angriffes, des aufgezwungenen Krieges, 
der wohlwollenden Neutralität usw. waren und sind für eine Macht, 
welche nicht völlig bona fide handelt, ganz beliebig deutbar. Wäre England. 
damals einen solchen Vertrag eingegangen, so hätte dieser doch keinerlei 
Sicherheit gewährt, denn die großbritannischen Staatsmänner würden 
nie gefunden haben, daß ein Krieg dem Deutschen Reiche aufgezwungen 
worden sei. Sie hätten vielmehr die umgekehrte Auffassung zum Ausdruck 
gebracht und ihre Pflicht zur wohlwollenden Neutralität nicht anerkannt. 
Ebenso wie die Begriffe des Angriffs und der Verteidigung gerade von 
einer Macht wie Großbritannien immer nach Belieben und nach der Ein- 
schätzung des jeweiligen eigenen Borteiles gedeutet worden sind, so wäre 
es auch mit dem provozierten und unprovozierten Angriff, mit dem auf- 
gezwungenen oder nicht aufgezwungenen Kriege gewesen. 
Alles in allem: die deutsche Regierung leitete im Februar 1912 die
	        
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