Der letzte Akt. 47
Vorgeschichte des Balkankrieges und seincs Zieles ist die Tatsache, daß man
in Rußland nicht nur über jede Phase und jeden Schritt der Balkanmächte
unterrichtet war, sondern die Fäden selbst in der Hand bielt, den Zeitpunkt
zum Loeschlagen bestimmte und schon Monate vor dem Beginn des Krieges
die Schiedsrichterschaft des Zaren für den Fall von Meinungsverschieden--
heiten unter den Verbündeten von diesen hatte anerkennen lassen. Der ruf-
sische Gesandte zu Belgrad, Herr v. Hartwig, war gewissermaßen Führer der
starken aufklärenden und bahnbrechenden Balkanvorhut des großen russischen
Ansturmes, dessen Zeitpunkt noch nicht gekommen war, der über Wien und
Berlin nach Konstantinopel führen sollte. Hartwig arbeitete mit der Seld-
ständigkeit und Kühnheit, die auch militärisch von einem solchen Führer
verlangt wird, scheute keine Berantwortung und nahm es der Petersburger
Regierung nicht übel, wenn sie gelegentlich „von ihm abrückte“. Kurz, der
politische Feldzugsplan der Balkanmächte war russischen Arsprungs, und
der Einigungspunkt, in dem sie sich fanden, war der Träger der russischen
Politik auf der Balkanhalbinsel und durch ihn die russische Regierung und
der Zar, ja ganz Rußland. Das russische Ziel 1912 war im wesentlichen das
gleiche wie 1908, aber durch den Balkanbund hatten sich die Verhältnisse
enorm günstig im Bergleiche zu 1908 für Rußland und seine Bundes-
genossen verschoben.
Daß die Londoner und Pariser Regierung in alle Geheimnisse der
Balkanbundfabrik eingeweiht waren, ihre Arbeit unterstützten, ja die eigent-
lichen Drahtzieher waren, braucht nicht gesagt zu werden. Der Besuch
Ssasonows in England und der des Ministerpräsidenten Poincaré in
Petersburg, von denen bereits gesprochen wurde, dienten der Berabredung
für die letzten Vorbereitungen und den Zeitpunkt zum Losschlagen. Erst
im Lichte dieser Tatsachen gewinnt nicht nur die deutsch-russische Zusammen-
kunft von Baltischport mit dem herzlich freundlichen russischen Kommuniqué
ihr richtiges Ansehen, sondern vor allem gilt dies auch von den herzlichen
und vertrauensvollen Verhandlungen zwischen Großbritannien und dem
Deutschen Reiche während der ganzen Zeit. Die politische Entwicklung vom
Balkankriege an bis zum Weltkriege kann einigermaßen richtig nur dann
beurteilt werden, wenn man sich ständig bewußt bleibt, daß nicht die Balkan-
staaten allein, nicht Rußland mit den Balkanstaaten allein, sondern der
Oreiverband mit den Balkanstaaten den Ansturm auf die Europäische Türkei
1912 organisiert und in Bewegung gesetzt hat.
In Deutschland und Osterreich-Ungarn schlug die Kriegserklärung der
Balkanstaaten wie eine Bombe ein. Man hatte bis zum letzten Augenblicke
noch geglaubt, der Frieden könne erbalten bleiben. Auch die Berliner und
Wiener Finanzkreise zeigten merkwürdigerweise bis zuletzt einen unver-
wüstlichen Optimismus. Uber Balkanbund und ähnliches war zwar schon