Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Der letzte Akt. 47 
  
  
  
Vorgeschichte des Balkankrieges und seincs Zieles ist die Tatsache, daß man 
in Rußland nicht nur über jede Phase und jeden Schritt der Balkanmächte 
unterrichtet war, sondern die Fäden selbst in der Hand bielt, den Zeitpunkt 
zum Loeschlagen bestimmte und schon Monate vor dem Beginn des Krieges 
die Schiedsrichterschaft des Zaren für den Fall von Meinungsverschieden-- 
heiten unter den Verbündeten von diesen hatte anerkennen lassen. Der ruf- 
sische Gesandte zu Belgrad, Herr v. Hartwig, war gewissermaßen Führer der 
starken aufklärenden und bahnbrechenden Balkanvorhut des großen russischen 
Ansturmes, dessen Zeitpunkt noch nicht gekommen war, der über Wien und 
Berlin nach Konstantinopel führen sollte. Hartwig arbeitete mit der Seld- 
ständigkeit und Kühnheit, die auch militärisch von einem solchen Führer 
verlangt wird, scheute keine Berantwortung und nahm es der Petersburger 
Regierung nicht übel, wenn sie gelegentlich „von ihm abrückte“. Kurz, der 
politische Feldzugsplan der Balkanmächte war russischen Arsprungs, und 
der Einigungspunkt, in dem sie sich fanden, war der Träger der russischen 
Politik auf der Balkanhalbinsel und durch ihn die russische Regierung und 
der Zar, ja ganz Rußland. Das russische Ziel 1912 war im wesentlichen das 
gleiche wie 1908, aber durch den Balkanbund hatten sich die Verhältnisse 
enorm günstig im Bergleiche zu 1908 für Rußland und seine Bundes- 
genossen verschoben. 
Daß die Londoner und Pariser Regierung in alle Geheimnisse der 
Balkanbundfabrik eingeweiht waren, ihre Arbeit unterstützten, ja die eigent- 
lichen Drahtzieher waren, braucht nicht gesagt zu werden. Der Besuch 
Ssasonows in England und der des Ministerpräsidenten Poincaré in 
Petersburg, von denen bereits gesprochen wurde, dienten der Berabredung 
für die letzten Vorbereitungen und den Zeitpunkt zum Losschlagen. Erst 
im Lichte dieser Tatsachen gewinnt nicht nur die deutsch-russische Zusammen- 
kunft von Baltischport mit dem herzlich freundlichen russischen Kommuniqué 
ihr richtiges Ansehen, sondern vor allem gilt dies auch von den herzlichen 
und vertrauensvollen Verhandlungen zwischen Großbritannien und dem 
Deutschen Reiche während der ganzen Zeit. Die politische Entwicklung vom 
Balkankriege an bis zum Weltkriege kann einigermaßen richtig nur dann 
beurteilt werden, wenn man sich ständig bewußt bleibt, daß nicht die Balkan- 
staaten allein, nicht Rußland mit den Balkanstaaten allein, sondern der 
Oreiverband mit den Balkanstaaten den Ansturm auf die Europäische Türkei 
1912 organisiert und in Bewegung gesetzt hat. 
In Deutschland und Osterreich-Ungarn schlug die Kriegserklärung der 
Balkanstaaten wie eine Bombe ein. Man hatte bis zum letzten Augenblicke 
noch geglaubt, der Frieden könne erbalten bleiben. Auch die Berliner und 
Wiener Finanzkreise zeigten merkwürdigerweise bis zuletzt einen unver- 
wüstlichen Optimismus. Uber Balkanbund und ähnliches war zwar schon
	        
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