Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

448 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
seit Monaten geschrieben und gesprochen worden, aber man glaubte eben 
nicht oder wollte nicht glauben, daß das so oft mißglückte Experiment jetzt 
wirklich geglückt sei. Anderseits wurden die Balkanstaaten ihrer militä- 
rischen Kraft nach zu Wien wie zu Berlin sehr stark unterschätzt, während 
man die damalige militärische Organisation und Bereitschaft des Türkischen 
Reiches in Europa ebenso stark überschätzte. Das ist vielleicht mit das Merk- 
würdigste bei jenen Vorgängen. Ob ein Krieg ausbricht oder nicht — das 
läßt sich oft bis zum letzten Augenblick nicht voraussagen. Eine Kleinigkeit, 
ein Zufall kann den Alusschlag nach der einen oder nach der anderen Seite 
geben. Anders steht es mit der Einschätzung der Kraft und militärischen 
Bereitschaft eines Staates. Gesandte, vor allem Militärattachés, ferner 
Geschäftsträger, Konsuln usw. müssen sich hier ein annähernd richtiges Bild 
machen können. Auf deutscher wie auf österreichisch-ungarischer Seite ist 
das damals nicht der Fall gewesen. Man täuschte sich nicht nur über die 
Wahrscheinlichkeit des Kriegsausbruches, sondern auch vollkommen über 
die Stärkeverhältnisse. v. Kiderlen-Waechter war bei Beginn des Krieges 
der sicheren Uberzeugung, die Türken würden sich ihrer vielen Feinde mit 
Leichtigkeit erwehren, wenn auch diese nicht vernichten können. Deswegen 
sah der deutsche Staatssekretär dem Verlaufe des Kampfes auch mit Ruhe 
entgegen und vertrat führend im Rate der Großmächte den Standpunkt 
der Erhaltung des Status quo auf dem Balkan, einerlei, wie die Kämpfe 
sich gestalten würden. Die übrigen Mächte gingen ohne weiteres darauf 
ein. Das Rad war im Rollen, und die wissenden Mächte des Oreiverbandes 
konnten die Entwicklung nunmehr ruhig den Waffen überlassen. Die Pro- 
klamierung des Status quo sollte da den Balkanstaaten sagen: Schlagt euch 
so viel ihr wollt, territorialen Gewinn werdet ihr davon nicht haben! — 
Und der französische Ministerpräsident Poincaré kam mit dem Vorschlage: 
alle Mächte sollten ihr „absolutes Desinteressement auf der Balkanhalbinsel 
erklären“. Dieses binterlistige Ansinnen richtete sich gegen Österreich-Un- 
garn, gegen dessen Lebensinteressen, Sicherheit und Bestand in erster Linie 
— neben denen des Türkischen Reiches — der Balkankrieg vom Oreiver- 
bande organisiert worden war. Selbstverständlich erklärte sich Osterreich- 
Ungarn nicht bereit dazu und ebensowenig Italien, denn eine Ausdehnung 
Serbiens an das Adriatische Meer lief auch dem italienischen Interesse 
zuwider. Das Deutsche Reich stand, ohne an diesen Einzelfragen direkt 
beteiligt zu sein, hinter seinen beiden Bundesgenossen. In demselben 
Augenblick begann nach dem Muster von 1908/09 eine ebenso feindliche 
wie gehässige Hetze Frankreichs, Rußlands und Serbiens gegen ÖOsterreich- 
Ungarn. Das war schon damals, als der europäischen Offentlichkeit die 
Entstehungsgeschichte des Balkanbundes noch unbekannt war, ein bedeut- 
sames und warnendes Symptom. "“
	        
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