Der letzte Akt. 449
Der Grundsatz der Erhaltung des Status quo ging mit großer Schnellig-
keit in Trümmer. Es zeigte sich, daß die verbündeten Balkanmächte dem
Türkischen Reiche in Europa bei weitem überlegen waren. Sie nahmen
ihm in raschem Siegeslaufe beinahe sein ganzes europäisches Gebiet ab.
Die Bulgaren rückten nach den siegreichen Schlachten bei Kirkkilisse und
Lüle Burgas bis an die letzte Berteidigungslinie Konstantinopels, die
Kschataldschalinie, vor. Die Serben besetzten Uesküb und Monastir, die
Eriechen gelangten unter glänzenden militärischen Leistungen nach Salo-
niki, besetzten außerdem ein halbes Outzend Inseln. Die Vereinigung
Kretas mit Griechenland wurde verkündet.
Eine Macht, welche selbst bei Vorhandensein des Willens imstande
gewesen wäre, angesichts dieses türkischen Zusammenbruches den Gebiets-
zustand wie vor dem Kriege wiederherzustellen, gab es nicht. So ließen
die Großmächte denn die Status-quo-Formel fallen. An ihre Stelle trat
die Doktrin der Nationalität auf dem Balban: jede Nationalität sollte das
Recht auf Selbständigkeit erhalten oder nach Möglichkeit mit ihrem Gebiete
ihren staatlich organisierten Bolkögenossen angeschlossen werden. Das war
die elastische Forderung der Balkanmächte und des hinter ihnen stehenden
Oreiverbandes.
Osterreich-Ungarn und das Deutsche Reich sahen sich vor einer wenig
erfreulichen Lage. Alles hatte sich anders gewendet, als sie vorausgesetzt
hatten. Die Türkei war zusammengebrochen, die Balkanmächte Herren
der Lage. Im Oeutschen Reiche tröstete man sich freilich zunächst mit dem
vermeintlich so vertrauensvollen Zusammenarbeiten mit den Regierungen
zu London und zu Paris. Beide betonten ihren Wunsch, den Frieden zu
erhalten, und hegten diesen Wunsch auch, denn eine bessere, risikolosere und
billigere Gelegenheit, Osterreich-Ungarn zu schwächen, auf dem Balkan zu
isolieren und die Berbindung zwischen dem Orient und den Mittelmächten
zu unterbrechen, war nicht vorstellbar. Dagegen versuchte man in London
und in Paris, durch Hetze gegen Österreich-Ungarn und dessen angebliche
Eroberungelust einen Keil zwischen Wien und Berlin zu treiben. Italien
batte den Balkankrieg, dessen Vorgeschichte ihm keineswegs unbekannt ge-
blieben war, als Befreiung aus seinen schweren tripolitanischen Nöten be-
grüßt. Eben infolge des Angriffs der Balkanmächte sah sich die Pforte ver-
anlaßt, ihren Frieden mit Italien zu machen, und öffnete ihm damit die
Sacgasse des tripolitanischen Unternehmens. Anderseits lag ein deutsches
Interesse darin, den Friedensschluß zu beschleunigen, um aus seiner immer-
bhin unbehaglichen Stellung zwischen dem Bundesgenossen und dem
Freunde hinauszugelangen. In Österreich-Ungarn rief der Zusammenbruch
der Europäischen Türkei tiefe Bestürzung und Erregung hervor. Man sah,
wie Serbien sich nicht nur des Sandschaks Nowibasar bemächtigte, sondern
Graf Reventlow, Deutschlands auswärtige Politik. 29