Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Der letzte Akt. 449 
  
Der Grundsatz der Erhaltung des Status quo ging mit großer Schnellig- 
keit in Trümmer. Es zeigte sich, daß die verbündeten Balkanmächte dem 
Türkischen Reiche in Europa bei weitem überlegen waren. Sie nahmen 
ihm in raschem Siegeslaufe beinahe sein ganzes europäisches Gebiet ab. 
Die Bulgaren rückten nach den siegreichen Schlachten bei Kirkkilisse und 
Lüle Burgas bis an die letzte Berteidigungslinie Konstantinopels, die 
Kschataldschalinie, vor. Die Serben besetzten Uesküb und Monastir, die 
Eriechen gelangten unter glänzenden militärischen Leistungen nach Salo- 
niki, besetzten außerdem ein halbes Outzend Inseln. Die Vereinigung 
Kretas mit Griechenland wurde verkündet. 
Eine Macht, welche selbst bei Vorhandensein des Willens imstande 
gewesen wäre, angesichts dieses türkischen Zusammenbruches den Gebiets- 
zustand wie vor dem Kriege wiederherzustellen, gab es nicht. So ließen 
die Großmächte denn die Status-quo-Formel fallen. An ihre Stelle trat 
die Doktrin der Nationalität auf dem Balban: jede Nationalität sollte das 
Recht auf Selbständigkeit erhalten oder nach Möglichkeit mit ihrem Gebiete 
ihren staatlich organisierten Bolkögenossen angeschlossen werden. Das war 
die elastische Forderung der Balkanmächte und des hinter ihnen stehenden 
Oreiverbandes. 
Osterreich-Ungarn und das Deutsche Reich sahen sich vor einer wenig 
erfreulichen Lage. Alles hatte sich anders gewendet, als sie vorausgesetzt 
hatten. Die Türkei war zusammengebrochen, die Balkanmächte Herren 
der Lage. Im Oeutschen Reiche tröstete man sich freilich zunächst mit dem 
vermeintlich so vertrauensvollen Zusammenarbeiten mit den Regierungen 
zu London und zu Paris. Beide betonten ihren Wunsch, den Frieden zu 
erhalten, und hegten diesen Wunsch auch, denn eine bessere, risikolosere und 
billigere Gelegenheit, Osterreich-Ungarn zu schwächen, auf dem Balkan zu 
isolieren und die Berbindung zwischen dem Orient und den Mittelmächten 
zu unterbrechen, war nicht vorstellbar. Dagegen versuchte man in London 
und in Paris, durch Hetze gegen Österreich-Ungarn und dessen angebliche 
Eroberungelust einen Keil zwischen Wien und Berlin zu treiben. Italien 
batte den Balkankrieg, dessen Vorgeschichte ihm keineswegs unbekannt ge- 
blieben war, als Befreiung aus seinen schweren tripolitanischen Nöten be- 
grüßt. Eben infolge des Angriffs der Balkanmächte sah sich die Pforte ver- 
anlaßt, ihren Frieden mit Italien zu machen, und öffnete ihm damit die 
Sacgasse des tripolitanischen Unternehmens. Anderseits lag ein deutsches 
Interesse darin, den Friedensschluß zu beschleunigen, um aus seiner immer- 
bhin unbehaglichen Stellung zwischen dem Bundesgenossen und dem 
Freunde hinauszugelangen. In Österreich-Ungarn rief der Zusammenbruch 
der Europäischen Türkei tiefe Bestürzung und Erregung hervor. Man sah, 
wie Serbien sich nicht nur des Sandschaks Nowibasar bemächtigte, sondern 
Graf Reventlow, Deutschlands auswärtige Politik. 29
	        
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