450 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
auch durch Albanien nach der Adriatischen Küste marschierte, um sich den
„Korridor“ nach der Adria zu öffnen. Oaß dieses unter keinen Umständen
von Österreich-Ungarn geduldet werden konnte, lag auf der Hand. In
Osterreich-Ungarn waren anscheinend auch innerhalb der Regierung die
Ansichten geteilt darüber, was zu tun sei. Es gab eine wohl vorwiegend
militärische Partei, welche von Anfang an die Auffassung vertreten hatte,
man müsse das Schwert gegen Serbien ziehen, sobald serbische Truppen
in den Sandschak Nowibasar einrückten. Die andere Partei war für eine
friedliche Lösung. Oer gleiche Gegensatz spitzte sich zu, als serbische Trup-
pen in Albanien eingerückt waren und die serbische Presse im Vereine mit
der russischen und englischen die Verbindung Serbiens mit dem Adriati-
schen Meere forderte. In diesem Augenblicke entschied die österreichisch—
ungarische Regierung sich anscheinend unter Beeinflussung von Berlin aus
wiederum zu friedlicher Erledigung der Angelegenheit: sie stellte inter-
national die Forderung auf, Albanien müsse zum unabhängigen Staate
gemacht werden. Ztalien schloß sich, wie schon hier bemerkt sein mag, dem
österreichischen Standpunkte an, weil es ebensowenig Serbien wie ÖOsterreich-
Ungarn auf einem Teile des albanischen Gebietes herrschen sehen wollte.
Den Ausschlag für die damalige Entscheidung SÖsterreich-Ungarns,
das Schwert in der Scheide zu lassen, hat neben dem Berliner Einflusse die
Sendung des bulgarischen Staatsmannes Dr. Danew nach Pest zum Kaiser
Franz Foseph bewirkt. Diese erfolgte am 11. November 1912, als in ÖOster-
reich-Ungarn alle Welt glaubte, es sei der Augenblick gekommen, um end-
lich mit Serbien abzurechnen. Die Sendung Danews begründete sich in
mehreren Momenten: die Angriffskraft der Bulgaren war vor der Tscha-
taldschastellung erlahmt, die Cholera herrschte in ihren Reihen. Hätte nun
Osterreich-Ungarn das Schwert gegen Serbien gezogen, so wäre Bulgarien
verpflichtet gewesen, gemäß der Militärkonvention den Serben zu Hilfe
zu kommen. Das wäre praktisch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, eben
weil es mit der bulgarischen Kraft zu Ende war. Die Folge wäre der Zu-
sammenbruch Serbiens und wahrscheinlich auch der gesamten russischen
Balkanhoffnungen gewesen. Deshalb lag es — nicht zur Erhaltung des
Friedens, sondern aus gewichtigen eigensüchtigen Gründen — im ZInteresse
des Dreiverbandes, daß Bulgarien durch eine vermittelnde und versöhnende
Haltung die österreichisch-ungarische Regierung veranlaßte, nicht loszu-
schlagen. Anscheinend hat Danew der österreichisch-ungarischen Regierung.
als Gegenleistung Einwirkung auf Serbien angeboten, damit man sich zu
Belgrad in der Albanischen und Adriatischen Frage bescheide. So wurde
es auch. Die Albanische Frage wurde auf das Eleie internationaler Ver-
handlungen geschoben. In Österreich-Ungarn war der Eindruck dieser
Entscheidung ein sehr geteilter, und die eine der beiden NRichtungen blieb