Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

454 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
Dienstzeit für notwendig erklärte. Wegen der Bevölkerungsziffer war eine 
Vermehrung der Präsenzstärke durch jährliche Mehreinstellungen wie in 
Deutschland nicht möglich, und als einziger Weg erwies sich die Verlänge- 
rung der Dienstzeit. Um diese für die Bevölkerung und für das gesamte 
französische Leben ungeheuer drückende und bedenkliche Maßnahme durch- 
zusetzen und volkstümlich zu machen, stellte die französische Regierung mit 
der ihr ergebenen Presse die Frage so dar, als ob die deutsche Heeresvorlage 
deutsche Angriffsabsichten auf Frankreich zur Gewißheit mache und damit 
Frankreich zwinge, selbst das schwere Opfer der dreijährigen Dienstzeit zu 
bringen. In. Wirklichkeit traf diese Darstellung keineswegs zu. Bielmehr 
hat damals der 1914 ermordete Sozialistenführer Jaurêés erklärt, daß 
Poincaré 1912 in Petersburg von Rußland verpflichtet worden sei, die drei- 
jährige Dienstzeit wieder einzuführen, da Frankreich sonst für einen Krieg 
gegen Oeutschland nicht die genügende Bundeehilfe leisten könne. Indirekt 
bestätigt worden ist dieses durch die Berichte der belgischen Gesandten. 
Auch sie sagen, daß man in Frankreich schon lange vor der Einbringung der 
deutschen Heeresvorlage zur dreijährigen Dienstzeit entschlossen gewesen 
sei. Diese Tatsache festzustellen ist wichtig, denn sie beweist den angriff- 
lichen Charakter des russisch-französischen Bündnisses in jener Zeit. Es 
war lediglich Mache, freilich eine geschickte und durchweg erfolgreiche, daß 
man in Frankreich die deutsche Heeresvorlage zum Anlaß der Erklärung 
und Propaganda nahm: angesichts dieser ungeheuren, offenbar durch An- 
griffsabsichten begründeten Verstärkung des deutschen Heeres sei Frankreich 
um seiner Selbsterhaltung willen zu dem Schritte gezwungen. 
Die Winterpause des ersten Balkankrieges ging schnell vorbei. Eine 
innere Umwälzung in der Türkei hatte die Folge, daß man den Kampf 
gegen die Balkanübermacht wieder aufnahm; allerdings zunächst ohne 
Erfolg, denn die Bulgaren nahmen das beldenmütig verteidigte Adrianopel 
mit Hilfe serbischer Truppen, und die Griechen eroberten Zanina. Oie 
Großmächte ihrerseits sahen sich veranlaßt, gegen Montenegro vorzugehen, 
weil der König Mikita sich weigerte, die Belagerung der Stadt Skutari auf- 
zugeben, welche zur Hauptstadt des zu schaffenden Fürstentums Albanien 
bestimmt worden war. Im März 1913 richtete Osterreich-Ungarn ein Ulti- 
matum an Montenegro und wurde, formal jedenfalls, von der Mehrheit 
der anderen Großmächte unterstützt. Als Skutari dann durch Einverständ- 
nis zwischen Belagerer und Belagertem genommen worden war, er- 
reichten Osterreich-Ungarn und Ztalien durch entsprechende Drohungen, 
daß Montenegro die Stadt wieder aufgab. Heute zeigt sich jenes öster- 
reichisch-italienische Zusammenarbeiten in einem anderen Lichte als damale. 
Eine innere österreichisch-italienische Einmütigkeit war nicht vorhanden, 
aber die italienische Regierung wußte, daß es für Österreich-Ungarn eine
	        
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