456 4. Abschnitt. Marokko und Balkan ale Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
nutzen, um die Beziehungen zu Großbritannien zu bessern. Noch kurz vor-
seinem Tode hob er im Reichstage diese Besserung mit Befriedigung hervor
und betonte den vertrauensvollen Charakter und die erfreuliche Intimität der
Beziehungen für die Offenbeit der gegenseitigen Aussprache zwischen der
deutschen und der großbritannischen Regierung. Oie letztere reagierte
hierauf mit keiner Silbe und ließ sich im übrigen das deutsche Vertrauen
gern gefallen. Die deutsch-englischen Berhandlungen über A#frika und
Orient nahmen ihren Fortgang, und die großbritannische Politik unterließ.
nichts, was den russisch-deutschen Gegensatz verschärfen konnte. v. Kiderlen-
Weechter ist mitten aus seinem Wirken abberufen worden, und auch des-
wegen ist ein endgültiges Urteil nicht möglich. Weil er ein starker Wille
war, so würde er mit der Zeit auch Ergebnisse gehabt haben. Ob diese
Ergebnisse dem Reiche zum Heile gereicht haben würden, ist nicht zu ent-
scheiden. Der Staatssekretär suchte Entspannung annähernd nach allen
Seiten, zugleich war er ein unbedingter Gegner kriegsmaritimer Ent-
wicklung Deutschlands, hoffte die Tripelentente zu sprengen und die Orient-
frage ungefähr in dem Sinne zu lösen, wie (lim Sommer 1910) der große
Krieg sie zur Lösung zu bringen scheint. v. Kiderlen-Waechter war ein über-
zeugter und energischer Vertreter der Erhaltung des Friedens. Er glaubte
nicht daran, daß die Tripelentente den Krieg wünsche, und er glaubte auch
nicht, so sagte er jedenfalls, daß Rußland imstande sein werde, einen großen
Krieg gegen Oeutschland und Osterreich-Ungarn zu führen. Der Tod v. Ki-
derlen-Waechters war damals auf alle Fälle ein Verlust, denn sein Einfluß
auf die Gestaltung der allgemeinen Lage war unleugbar und würde sich
vermutlich noch erhöht haben. Ob er zu vieles nach zu vielen Seiten und-
auf einmal wollte, wieweit ihn seine von zuviel Bertrauen getragene Vor-
liebe für Großbritannien geführt haben würde, läßt sich nicht entscheiden.
v. Kiderlen-Waechter war auf alle Fälle ein Mann, der etwas erreichen
wollte, den Beruf dazu in sich fühlte und an sich glaubte. Sein Nachfolger
wurde der bisberige Botschafter zu Rom, Herr v. Jagow.
Im Frühjahr 1915 tagte zu London neben der Botschafterkonferenz,
auch die Friedenskonferenz der Balkanstaaten und der Türkei. Ende
Mai kam ein Präliminarfrieden zustande, welcher dem Türkischen Reiche-
Adrianopel mit beinahe seinem ganzen europäischen Besitze nahm und
als Grenzlinie Enos—Midia festlegte. Ehe dieser Friedensvertrag end-
gültig und in Einzelbeiten festgelegt werden konnte, entstanden Zwistig-
keiten zwischen Bulgarien und Serbien und Bulgarien und Griechen-
land. Serbien beanspruchte Kompensationen in Mazedonien auf Kosten
der bulgarischen Neuerwerbungen dort, weil es Albanien hatte aufgeben
müssen und Bulgarien beträchtliche serbische Waffenhilfe zuteil geworden
war. Serbien und Griechenland fochten den vor dem Kriege getroffenen