462 4. Abschnitt. Marokke und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
Frieden erhalten, weil der so geschaffene und sich bildende Zustand eine
Menge von Keimen zu enthalten schien, um den Oreibund zu zerrütten
und Österreich-Ungarn auf dem Balkan steigend zu schwächen und zu
gefährden. So glaubte er, wie die französischen und russischen Staats-
männer, daß die Erhaltung des Friedens — auf den sikizzierten Grund-
lagen — im Sinne der Schwächung der beiden europäischen Zentral-
mächte wirken würde, die früher oder später zu unterdrücken oder zu ver-
nichten nach wie vor das Programm dee Dreiverbandes bildete. Rußland
war noch nicht mit seinen Rüstungen fertig, jedoch in der Lage, den Zeit-
punkt seiner Bereitschaft mit Sicherheit angeben zu können. Die Art,
wie Grey die Londoner Verhandlungen führte, richtiger: sich hinschleppen
ließ, bewies, daß ihm an einem schnell hergestellten und gesunden Frieden
nichts lag, im Gegenteil. In ODeutschland aber hatte man gerade zur
Person Greps festes und aufrichtiges Vertrauen, dienten doch auch die
Derhandlungen über die kleinasiatischen Bahnen und über Angola und
Mozambigque zwischen den beiden Mächten zur Bertiefung der „Intimität“.
Großbritannien seinerseits war sehr befriedigt, daß die Balkanangelegen-
heiten die Stimmung Rußlands gegen Osterreich-Ungarn und das Deutsche
Reich verschärften. Richt zum wenigsten, um diese Erkenntnis nicht in
Berlin eintreten zu lassen, versuchte man dort den Eindruck zu er-
wecken, als ob Großbritannien wegen der wachsenden Machtstellung Ruß-
lands auf der Balkanhalbinsel anfinge, besorgt zu werden und insofern
eine gewisse verschämte Solidarität mit dem Deutschen Reiche empfände.
Es konnte nicht fehlen, daß solche Andeutungen in Berlin mit Genug-
tuung aufgenommen wurden und zur Grundlage für weitgehende Hoff-
nungen dienten. #Man glaubte zu Berlin, was man hoffte.
Osterreich-Ungarn soll, so ist erzählt worden, durch die deutsche Ver-
mittlung zweimal veranlaßt worden sein, nicht loszuschlagen. Anderseite
ist schwer zu entscheiden, ob die leitenden Männer der Ooppelmonarchie
damals tatsächlich einen geeinten und festen Entschluß gefaßt hatten oder
fassen wollten. Man möchte es bezweifeln. Wäre das der Fall gewesen,
so würden der Oeutsche Kaiser und die deutsche Regierung schwerlich eine
entscheidende Einwirkung im entgegengesetzten Sinne versucht, sondern
die Konsequenzen gezogen haben, welche der Oeutsche Reichskanzler in
seiner Rede andeutete. Auf alle Fälle war die Lage der Doppelmonarchie
sehr unbehaglich, und ihr Prestige ging, wie gesagt, erheblich gemindert
aus den Balkankriegen hervor. Serbien floß über von geringschätzigem
Hasse. Die großserbische Propaganda wurde umfassender und anmaßender
denn je betrieben, und man war überzeugt, daß in absehbarer Zeit ein
vernichtender Angriffskrieg gegen Osterreich-Ungarn bevorstände. Die
militärischen Erfolge im Balkankriege hatten das serbische Selbstgefühl